Die Reform, der niemand traut

Was uns einst an Ferien in einer wunderschönen Stadt erinnerte, benennt nun eine schwerfällige Reform, Bild: Wikimedia Commons

Spannungen zwischen dem Historischen Seminar und der Fakultät: Ein drohender Brief, viel Wortklauberei und mehr Streit als Reform. Eine Spurensuche zu Bologna 2020 und zur Frage, was elitär ist: mehr oder weniger Verschulung?

Als der Brief eintrifft, herrscht Weihnachtsstimmung an der Universität. Das Semester geht zu Ende, die Leute essen gedanklich schon Fondue Chinoise und am Historischen Seminar (HS) ist man zufrieden und ruhig. Woanders weniger.

Keine Überraschungen mehr?

Zufrieden ist man am HS, weil man eben an einer Sonder-Seminarkonferenz wichtige Beschlüsse zur Uni-Reform Bologna 2020 verabschiedet hat – und zwar einvernehmlich, wie Seminarleitung, Mittelbau- und Studivertretung betonen. Nur über die (schliesslich abgelehnte) Reduktion des BA-Seminarumfangs von 9 auf 6 ECTS-Credits wurde gestritten. Sonst war man sich einig – entsprechend ist Programmkoordinatorin Julia Müller zufrieden: «So machen wir das Beste mit unseren Ressourcen.» Und auch Programmdirektorin Monika Dommann, die mit Müller die Reform am HS vorantreibt, ist überzeugt: «Es wird keine grösseren Überraschungen mehr geben.» Die beiden sind ein eingespieltes Team: Eine beendet den Satz der anderen.

Was jedoch weder sie noch wir wissen: In ihrem Mail-Postfach wartet bereits eine grössere Überraschung. Genau während unseres Gesprächs, am 21. Dezember um 16.12 Uhr, trifft ein Brief ein mit dem Titel «Dringend: Weitere Arbeitsschritte an den Bachelor- und Masterprogrammen des HIST». Gesendet hat ihn Daniel Müller Nielaba, Studiendekan der Philosophischen Fakultät und dort verantwortlich für die Umsetzung von Bologna 2020, und zwar an gut 17 Leute: den gesamten HS-Programmausschuss mit Vertretenden von Studierenden und Mittelbau, die Seminarleitung und den Dekan der Fakultät.

Während Dommann und Müller noch betonen, die grobe Struktur des künftigen Geschichtsstudiums stehe und nur einzelne Wände könnten sich noch verschieben, schreibt der Studiendekan von «27 Monita» und anderen korrekturbedürftigen Elementen, die noch in den Vorschlag des HS eingearbeitet werden müssten. «Wir werden stark gesteuert und häppchenweise informiert», sagt Monika Dommann, während sich der Studiendekan im Brief beschwert, selbst erst an jenem 21. Dezember über einen möglichen Personalengpass am HS informiert worden zu sein. Dies, so insinuiert er, sei der Anlass für den Brief. Der etü weiss jedoch aus verlässlicher Quelle, dass der Studiendekan schon zuvor seinen Unmut über den Reformprozess am HS ausgedrückt und das Schreiben des Briefes angekündigt hat. Ausserdem betont der Seminarvorstand des HS in einer Antwort am selben Tag, das Bologna-Team der Fakultät sei schon zuvor über die Terminfrage informiert worden. Und Co-Seminarvorsteher Simon Teuscher wird versichern: «Es wird vielleicht etwas eng, aber wir schaffen das sicher.»

Bald kein Geschichtsstudium mehr?

Interessanter als diese Detail ist jedoch, dass das HS den Brief offensichtlich nicht kommen sah, dass er an alle Beteiligten statt nur an das Kernteam ging. Und interessant ist auch sein Ton: Sachlich, bürokratisch – und mit einem drohendem Unterton, den Monika Dommann und Simon Teuscher als «befremdlich» beschreiben werden. So schreibt der Studiendekan, er «übernehme keinerlei Garantie dafür», dass nicht termingerechte Eingaben rechtzeitig in Kraft gesetzt würden – obwohl die letzten Eingaben des HS ohne Verspätung erfolgten. Er schreibt gar, «dass Programme, deren Verabschiedung nicht termingerecht erfolgt, im HS 19 nicht Teil des Studienangebots der PhF sein werden». Das wäre das Worst-Case-Szenario: Im Herbst 2019 kann man sich nicht mehr für Geschichte einschreiben. Breit verteilt erscheint diese als Terminproblem inszenierte Warnung wie eine Drohkulisse. Ist das ein Druckversuch, um dem HS Beine zu machen?

«Es braucht Freiheit zur Selbstfindung. Gegen Verschulung wehren wir uns.»
– Monika Dommann, Programmdirektorin Historisches Seminar

Daniel Müller Nielaba kommt uns schon im Gang entgegen. Er führt uns in ein kleines Büro und nimmt sich Zeit. Auf den Brief angesprochen, wiegelt er ab. Er wolle keine Konfrontation, sondern bloss seine Verantwortung wahrnehmen, an wichtige Termine zu erinnern. Müller Nielaba ist staatsmännisch und zurückhaltend. Die Monita: beträfen vor allem technische und Terminprobleme. Der breite Adressatenkreis: aus Transparenzgründen. Das Ziel des Briefes: eine Studienordnung, die ein Studium ohne administrative Hürden ermöglicht. Und das Worst-Case-Szenario: «hoffentlich nicht realistisch». «Ich glaube», so der Studiendekan, «das HS hat eine sehr moderate Reform im Kopf, andere Institute sind avantgardistischer». Aber: «In die Inhalte der Fächer greifen wir nicht ein. Wir geben nur Formate und die Regeln der Rahmenverordnung vor», sagt er. Und erweckt doch den Eindruck: Er hätte es anders gemacht.

Fit für den Arbeitsmarkt?

Reformisten wie Müller Nielaba geht es in der Bologna-Reform vor allem um Kompetenzen. Sie wollen auf Bachelorstufe einen Fokus auf die wichtigsten Fähigkeiten einer Disziplin legen. Dazu verlangen sie mehr Pflichtveranstaltungen und eine Ausrichtung des Studiums an den Bedürfnissen der Absolventinnen und Absolventen im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Die Antwort der Bewahrer auf diese Forderungen ist einfach. «Wir sind bereits kompetenzorientiert», sagt etwa Julia Müller. Und Dommann: «Historikerinnen und Historiker haben sehr gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt». Jedoch wolle man im kommenden Semester in Arbeitsgruppen die Struktur von Veranstaltungstypen noch diskutieren und vereinheitlichen. Das schätzt Müller Nielaba zwar, bedauert aber, dass man immer noch in «Veranstaltungen» statt «Modulen» denke. Das sei ein Überbleibsel aus dem Liz-System. (Module sind Lehrgefässe, die aus einem Mix von selbständigem und geleitetem Arbeiten bestehen und wiederkehrend stattfinden können.)

Der Streit über diese beiden Begriffe wirkt, als wäre er ohne inhaltliche Bedeutung. Was daran liegen könnte, dass beide Seiten Ähnliches meinen. So zeichnen sich etwa Seminare am HS gerade durch gemischte Lernformen aus. Was sich hingegen ändern wird, sind die Modultitel. Sie werden vereinheitlicht, sodass beispielsweise ein BA-Seminar über Geschlechtergeschichte im Mittelalter in Zukunft «Mittelalter I» heissen wird. Am HS weiss man, dass der Studiendekan von der jetzigen Umsetzung nicht begeistert ist und sich tiefergreifendere Veränderungen wünscht als nur neue Titel für alte Seminare. Müller und Dommann geben jedoch an, bewusst bewährte Inhalte zu behalten. «Wir sind schon vorsichtig», sagt Dommann, schliesslich habe das HS schon bei der letzten Reform 2013 viel am Studium verbessert. Man halte sich aber an das Vorgeschriebene: «Schliesslich müssen wir regelmässig Workshops besuchen und rapportieren. Das ist zwar jeweils eine schier nicht zu bewältigende intellektuelle Leistung, doch wir halten uns immer pingelig genau an die Vorgaben.» Das HS setzt die Bologna- Reform also zurückhaltend um. Aber selbstbewusst zurückhaltend. Co-Seminarvorsteher Teuscher sagt: «Wir haben einen sehr fortgeschrittenen Meinungsbildungsprozess. Deshalb wirken wir gegen aussen manchmal bockig.»

«Wir sind Hochschulen. Schulung steht schon im Namen der Institution.»
– Daniel Müller Nielaba, Studiendekan Philosophische Fakultät

Die Fakultät sieht Bologna 2020 also als Reform von unten – und ist frustriert, weil dort nicht immer das geändert wird, was man oben ändern will. Das Historische Seminar sieht sie als Reform von oben – und will den Kern des Geschichtsstudiums nicht an sie verlieren. Klar ist: Inhaltlich wird sich das HS durchsetzen können – solange es weiter im erlaubten Rahmen bockig bleibt. Der Konflikt zwischen HS und Fakultät ist dennoch interessant. Denn die grosse Differenz zwischen HS und Fakultät besteht letztlich nicht darin, ob ein Studium sich an Fähigkeiten und Karrierechance orientieren sollte, sondern wie.

Im Namen der Freiheit

Da ist man sich fundamental uneinig: Nützt mehr Struktur, mehr Verschulung den Studierenden? Macht es sie reicher an Kompetenzen und fitter für das Leben nach dem Studium? Die Haltung des HS dazu ist ein klares Nein. Am Studienanfang werde man jetzt schon bei der Hand genommen, so Monika Dommann. Und danach gelte: «Es braucht Freiheit zur Selbstfindung.» Man müsse den Leuten Eigenständigkeit zutrauen, und auch die Studienstruktur insgesamt sei nicht undurchsichtig. «Gegen Verschulung wehren wir uns.»

Daniel Müller Nielaba seufzt. «Wir sind Hochschulen», sagt er, «Schulung steht schon im Namen der Institution.» Er findet: «Wenn ein Studium nur aus Wahlmodulen besteht, hat man es schwerer im Hinblick auf den Arbeitsmarkt.» Pflichtmodule, so der Studiendekan, seien die «Qualitätslabels» eines Studienprogramms auf Bachelorstufe. Dort erlerne man die wichtigsten Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten zu definieren und verbindlich zu machen, hält er für eine Pflicht: «Die öffentliche Hand hat ein Anrecht darauf, zu wissen, was man von uns lernt.»

Das allein legitimiert jedoch noch keine Verschulung. Wahlfreiheit bedeutet schliesslich nur, dass man die Wahl hat, wo man gewisse Fähigkeiten erlernt – und nicht, ob man sie überhaupt erlernt. Ob im Seminar zu Kindheit im Mittelalter oder zu den Merowingern: An beiden Orten lernt man mittelalterliche Quellenanalyse und das Schreiben einer stringenten Arbeit. Und so bringt Müller Nielaba ein weiteres Argument für die Verschulung. «Wir haben immer mehr Studierende, auch aus bildungsfernen Kreisen», sagt er, «und es ist elitär und arrogant zu sagen: Ihr müsst selbst wissen, was ihr hier lernen wollt.» Eine klarere Struktur soll das Studium also offener für Kinder von Nichtakademikern machen. Denn: «Auch die Fähigkeit zu nichtverschultem Studieren will zuerst gelernt sein.» Es sei elitär anzunehmen, Studis kämen aus den obersten 2% und wüssten genau, was es für ein erfolgreiches Studium brauche.

Gespaltene Studierendenschaft

Die gleiche Meinungsverschiedenheit zwischen HS und Fakultät findet sich auch auf Studiebene: Lorine Pally vom Fachverein Geschichte ist gegen eine tiefgreifende Reform und will den Studis ihre Freiheiten erhalten. «Die grossen Auswahlmöglichkeiten machen das Geschichtsstudium aus.» Tobias Hensel, studentischer Vertreter in der fakultären Bologna-Arbeitsgruppe und ein Dinosaurier der Uni-Politik, widerspricht: Eine klarere Studienstruktur bedeute mehr Transparenz gegenüber Studis und Studieninteressierten und eine Antwort auf die Frage «Was machen die da?». Das beschränke keine Freiheiten, im Gegenteil: Es öffne die Uni gegen unten und sei wichtig in Zeiten politischen Legitimationsdrucks auf Geisteswissenschaften. «Das jetzige Geschichtsstudium ist elitär, weil es der Idee der Massenuni widerspricht – die aber Realität ist.»

«Verschulung ignoriert nichtlineare Bildungswege.»
– Erich Keller, Historiker

Der Vorwurf ist geschickt: Wer will schon elitär sein? Doch Daten des Bundesamts für Statistik stützen die These zunächst nicht. Ordnet man Studienfächer nach dem Anteil Akademikerkinder, landen die eher unstrukturierten Geisteswissenschaften im Mittelfeld. In strukturierten Fächern wie Medizin, Recht oder Naturwissenschaften (aber auch im weniger strukturierten Kunstbereich) ist der Anteil Akademikerkinder allesamt höher.

Wer ist jetzt elitär?

Auch Erich Keller schüttelt den Kopf. Er rührt in seinem Pfefferminztee und sagt zu Verschulung und Durchlässigkeit: «Die Behauptung, dass diese beiden Dinge gekoppelt sind, ist eine groteske Umdrehung.» Das soziale Ausfiltern von Kindern aus unteren Schichten finde lange vor dem Studienantritt statt. Wer es ans HS geschafft habe, habe die grössten Hürden schon hinter sich. Keller – promovierter Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität und freier Autor – weiss das aus eigener Erfahrung. Er brach einst seine Lehre in der Fabrik ab, arbeitete jahrelang in verschiedenen Branchen und fand erst auf dem zweiten Bildungsweg an die Uni. Keller betont, er sei weder Bildungsexperte noch wolle er stellvertretend für eine bestimmte Schicht sprechen. Doch es sei schlicht bevormundend zu denken, dass Studis aus unteren Schichten nicht wüssten, was Freiheit sei und wozu man sie gebrauchen könne. Im Gegenteil: «Der zweite Bildungsweg versucht, den Leuten den Wiedereinstieg zu erleichtern. Verschulung verhindert das eher, denn sie ignoriert nichtlineare Bildungswege.» Wer schon gearbeitet und Geld verdient hat, wird mehr Mühe haben, sich in ein stark strukturiertes Studium einzufügen – vor allem, wenn sich dieses an den Bedürfnissen der Ex-Gymnasiasten orientiert, die den geraden Weg an die Uni gegangen sind. Sie kennen verschulte Systeme und finden sich darin eher zurecht.

Keller vermutet, dass hier sogenannt «bildungsferne» Schichten für eine bestimmte Agenda instrumentalisiert würden – für die, das Geschichtsstudium wirtschaftskompatibler zu machen. Ein stärker durchmischtes Studium erreiche man höchstens mit mehr Öffentlichkeitsarbeit. «Was in der historischen Forschung läuft, wird extrem schlecht vermittelt.» Seine Eltern, so Keller, fragten ihn noch heute, was er eigentlich studiert habe.

Auch Co-Seminarvorsteher Teuscher räumt ein: «Vielleicht müssten wir uns mehr Gedanken dazu machen, wie wir unseren Ruf in der Öffentlichkeit verbessern können.» Im Moment verfolge das HS denn auch diverse Projekte, um Marketing für das Geschichtsstudium zu betreiben. Wie den meisten Fächern der philosophischen Fakultät täte eine solche Imageverbesserung dem HS sicher gut. Es ist jedoch fraglich, ob diese schwerfällige Reform dem zuträglich ist. Wenn es bei Bologna 2020 nicht um soziale Mobilität, sondern schlicht darum geht, unser Studium durch neue Strukturen karrieretauglicher zu gestalten, dann sollte man auch darüber diskutieren, ob man das wirklich will. Und sich die Frage stellen, ob Verschulung der Karriere tatsächlich nützt.

Die ewige Reform

Nach der 2006 abgeschlossenen Umstellung auf Bologna und der Reorganisation des Geschichtsstudiums 2013 ist Bologna 2020 die dritte Reform, in der die letzten Überreste des Liz-Systems abgeschafft und alle Fächer der Philosophischen Fakultät eine einheitliche Struktur erhalten sollen. Sie findet jetzt statt, weil die Uni 2016 eine «Musterrahmenverordnung» verabschiedet hat, in der sie Grundsätzliches zum Aufbau aller Studiengänge festschreibt. Sie geht über das Administrative hinaus, weil 2014 eine Umfrage von swissuniversities ergeben hat, dass die Studis an der Philosophischen Fakultät in Zürich mit ihrem Studium landesweit am unzufriedensten sind. Was sich am HS gemäss aktuellem Stand alles ändern wird, gibt es hier nachzulesen.