The Churchill Factor(y)

WÜRDE IN EUROPA EINE UMFRAGE ZU DEN GRÖSSTEN HELDEN DES 19. JAHRHUNDERTS DURCHGEFÜHRT, WÜRDE ES WINSTON CHURCHILL WOHL MINDESTENS IN DIE TOP TEN SCHAFFEN. DER ENGLÄNDER, DER BRITANNIEN, EUROPA UND DIE WELT ÜBER MEHR ALS EIN HALBES JAHRHUNDERT MITGEPRÄGT HAT, IST AUCH 50 JAHRE NACH SEINEM TOD NOCH OMNIPRÄSENT. MAN ERINNERT SICH, HULDIGT IHM UND VERGLEICHT SICH MIT IHM – OFT AUS NICHT GANZ UNPOLITISCHEN MOTIVEN.

Nicht nur im Vereinigten Königreich ist Winston Churchill ein wichtiger Erinnerungsort der breiten Massen. Er steht symbolisch für den mutigen Kampf gegen die Nazis. Gleichzeitig ist er ein Vorbild und Referenzpunkt einiger überwiegend männlicher Politiker: Der waghalsige Kalkulator, der genusssüchtige Schwerstarbeiter, der humorvolle todernste Stratege, die gesellige Insel – Churchill wird von ihnen wegen seines einzigartigen Charakters verehrt. Nicht selten versuchen diese Herren ihr eigenes Image durch Parallelen zu Churchill aufzupolieren, oder durch ihn ihre politische Agenda zu legitimieren. Paradebeispiel ist hier in der Schweiz Christoph Blochers Rede anlässlich des Churchill-Symposiums der Uni Zürich im Jahr 2004, von der die NZZ am Folgetag schrieb «Blocher sprach über Churchill und meinte sich selbst». Für Schweizer Rechtspopulisten wie Christoph Blocher und Roger Köppel ist der britische Kriegspremier eine Ikone des Kampfes gegen innen- und aussenpolitische Windmühlen. Churchill wusste von Anfang an, welche Gefahr von den Nazis ausging, während unter seinen Mitbriten, wie Köppel es in der Weltwoche vom 24.9.2014 schrieb, eine «kollektive Verblendung» herrschte. Blocher und Köppel parallelisieren ihren Anti-EU-Kampf gegen einen vermeintlichen Mainstream, der vor der Wirklichkeit verblendet sei, mit Churchills Kampf und äussern damit die Hoffnung oder die Überzeugung, dass sie, wenn nur genügend Zeit verginge, am Ende recht bekommen würden.

Blocher, Johnson und Churchill – Alles Seelenverwandte?

Bei Rechtspopulisten dieses Schlags ist die politische Motivation solcher heroischen Vergleiche relativ leicht durchschaubar und der Vergleich per se scheint unplausibel, da beispielsweise die EU nicht gerade viele Parallelen mit dem Nationalsozialismus hat und da vermutlich weder Blocher noch sonst ein rechtspopulistischer Politiker in der Schweiz mehr Churchill’sche Eigenschaften besitzt als Du und ich.

Während die Churchill-Analogismen solcher Politiker also mehrheitlich etwas plump daherkommen, gibt es auch Politiker, die sich vielschichtiger mit Churchill auseinandersetzen. Den bis anhin virtuosesten Versuch unternahm Boris Johnson in seinem Buch The Churchill Factor – How One Man Made HistoryEnde 2014. Der Londonder Bürgermeister, der für seine extravaganten Auftritte, seine eloquenten Reden, seine verwindete Frisur und seine Fähigkeit, politische Skandälchen zu erzeugen, bekannt ist, hat die für am meisten Aufsehen sorgende Churchill-Biographie des letzten Jahres geschrieben. Das Buch ist ein Mix aus elegischem Heldenepos, historischer Analyse, politischer Propagandaschrift und komischer Unterhaltung. «Boris», wie der Bürgermeister von vielen seiner Anhänger zärtlich genannt wird, lässt darin nämlich keine Gelegenheit aus, die lustigsten Churchill-Taten und Zitate einzustreuen. Er zitiert etwa den auf dem Klo sitzenden Premierminister der dringend zum Lord Privy Seal(Lordsiegelbewahrer) gerufen wurde folgendermassen: «Tell the Lord Privy Seal, that I am sealed in the privy and can only deal with one shit at a time». Selbst solche vulgären Aussprüche benutzt Johnson dazu, Churchill als Genie darzustellen, beinhaltet doch der Kloausspruch einen nicht allzu einfachen Chiasmus, auf den wohl die wenigsten gekommen wären.

The Churchill Factor

Doch grösstenteils stürzt sich Johnson schon auf die grossen Geschichten, um die Einzigartigkeit seines Helden zu beweisen. Ausgehend von der These, dass Nazideutschland den Krieg ohne Churchills Mut, Willen und taktisches und rednerisches Geschick fast sicher gewonnen hätte, stellt Johnson die Frage nach dem Churchill Factor, das heisst dem Entstehen und Wirken des Charakters der britischen Ikone. Er kommt dabei zum Schluss, dass Churchill einer der einzigen Politiker war, der sich wagte, das «Cockpit der Geschichte» in eine andere, von seiner Einsicht vorgegebene Richtung, zu steuern. Diese Furchtlosigkeit erklärt Johnson damit, dass sich Churchill in seiner Kindheit von seinem Angsthasentum befreien und damit «den Sieg über sich selbst» feiern konnte. Gleichzeitig sei er von ausserordentlicher Intelligenz und rhetorischem Talent gewesen, das heisst technisch quasi in der Lage, mit dem Cockpit auch richtig umzugehen. Johnson analysiert Churchills Redestil und weist auf dessen Fähigkeit hin, Sachverhalte in einfache anglosächsische Worte zu fassen (und kann es sich dabei nicht verkneifen, Tony Blairs Redestil mit dem von Adolf Hitler zu vergleichen). Churchills Willen und Antrieb erklärt sich Johnson mit einer Art Vaterkomplex: Winston Churchill wurde von seinem Vater Randolph bis zu dessen Tod nicht richtig anerkannt. Der Churchill-Faktor besteht laut Johnson folglich vorwiegend aus Arbeitseifer, Genie, Furchtlosigkeit, Wille und Unbeeinflussbarkeit durch vorherrschende zeitgenössische Diskurse. Dazu kam das Bewahren von britischen Tugenden wie Genussliebe und Humor – ideale Voraussetzungen für einen englischen Helden.

The Churchill Factory

«Boris» gibt an, seine Motivation sei es, Churchill im Kopfe der Nation zu bewahren, da schon heutzutage viele meinen würden, Churchill sei ein Hund aus einer Versicherungs-Werbung. In der Tat bietet der Nationalheld Churchill sich als optimaler Träger von Johnsons Vorstellung von konservativer Politik an. Johnson gilt nämlich nicht nur wegen seines Charisma als Enfant terrible der englischen Politik, sondern auch deshalb, weil er regelmässig von der vorherrschenden Ideologie der Tories abweicht, und nicht selten auch gegen die eigene Partei schiesst. Churchill, der seine schärfsten Gegner oft in seinen eigenen Reihen hatte, und der gar einmal für kurze Zeit die Partei wechselte, ist natürlich ein sehr gutes Beispiel dafür, dass sich eine solche Partei-Untreue lohnen kann. Johnsons Biographie, die in sehr einfachem, einprägsamen, Englisch geschrieben ist, kann unschwer als Plädoyer dafür gewertet werden, dass eine Nation in schwierigen Situationen auf einen charismatischen Nonkonformisten wie Churchill – oder halt eben auch Johnson – angewiesen ist.

Etwas origineller und vielleicht auch wahrheitsnaher als Schweizer Churchill-Verehrer, zeigt auch Johnson Churchill als einen ihm nützenden Helden, und gleichzeitig macht er sich selbst ein grosses Stück weit zum Churchill der heutigen Zeit. Sein Buch über den Churchill Factor wird so schnell zu einer Churchill Factory. Nichtsdestoweniger ist Johnsons Beitrag eine interessante Herausforderung für die Geschichtswissenschaft. Johnson selbst sieht sein Buch mitunter als Beweis gegen die gängige Meinung von «marxistischen Historikern», dass Einzelpersonen nicht als Motor der Geschichte funktionieren könnten. Obwohl Johnson in seiner Churchill-Geschichte sozial- und wirtschaftshistorische Vorgänge grossen Teils ausblendet, ist seine Churchill-Biographie keine Lügengeschichte. Sie basiert auf sauberer Recherche und wurde durch ein Historiker-Team unterstützt. Churchill, der so viel gleichzeitig sein konnte, der so viele Unwetter und waghalsige Abenteuer überlebt hatte und der sicherlich einen grossen Beitrag im Krieg geleistet hatte, ist in der Tat ein Mann, der so viele Fähigkeiten und Eigenschaften auf sich vereint, dass sein Heldentum nicht so einfach als Konstrukt abgetan werden kann. Vielmehr sollte er als gutes Beispiel dafür gelten, dass Personengeschichte nicht so einfach über Bord geworfen werden kann. Doch sollte Personengeschichte keinesfalls im Stile von «one man can make all the difference», betrieben werden, wie es Johnson macht, sondern danach fragen, wie eine Person zur heldenhaften gemacht wurde und so auf die Gesellschaft gewirkt hat und die Handlungen einer Person im Kontext gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Strukturen analysieren. Nur so sind Personen, die als Helden gelten, historisierbar. Andernfalls kommt man wie Johnson zu einem relativ verqueren Schluss: «Boris» schliesst sein Buch ziemlich messianisch, indem er schreibt, dass es nie in der Geschichte einen wie Churchill gab und auch nie wieder einen geben werde. Man solle froh sein, dass er genau zu der Zeit gelebt hat, in der er am meisten gebraucht wurde. Ob Johnson mit dieser These erneut auf sich selber verweist, sei dahingestellt.


Literatur