«Postfaktisch» – ein gefährlicher oder ein sinnvoller Begriff? Das Kontra

(Fotomontage: etü)

Der Begriff des Postfaktischen ist einer der populärsten, wenn es um das Analysieren aktueller politischer Geschehnisse geht. Die Wahl Trumps, der Brexit, der Aufstieg der AfD, Andreas Glarners Arena-Auftritte – solche Ereignisse werden schnell als Kinder eines «postfaktischen Zeitalters» bezeichnet. Ist das plausibel? Oder eher gefährlich? Das Pro und Kontra des etü.

Wie schön, dass es in der hochkomplexen postmodernen Welt noch immer bewährte Instrumente für ein simples Weltverständnis gibt – das beliebteste unter ihnen ist wohl der Dualismus. Mit ihm lässt sich die komplexe Welt einfach und befriedigend kategorisieren – in Opfer und Täter, in Weltoffenheit und Isolationismus, in Menschen und Unmenschen, und – der Klassiker – in Wahrheit und Falschheit. Seit etwa einem Jahr kursiert der Begriff des «postfaktischen Zeitalters» in Geisteswissenschaften und Medien, der bezüglich der letztgenannten Dualität neue Erkenntnisse zum Verständnis der Gegenwart verheisst.

Der erfolgreiche Wahlkampf von Donald Trump und der gewonnene Abstimmungskampf der Brexit-Befürworter haben unter den Kommentatoren der Gegenwart in Wissenschaft, Politik und Medien Fragen aufgeworfen. Wie konnte es geschehen, dass populistische Politiker und ihre Strategen trotz auf Lügen, Manipulationen und so genannten «Fake News» basierten Kampagnen zum Ziel gelangten? Die Antwort konnte nur eine Zeitdiagnose liefern: Die Gegenwart muss als «postfaktisches Zeitalter» begriffen werden, indem Fakten und Vernunft der Mehrheitsbevölkerung egal sind und Gefühle alles regieren. Der Begriff wurde deshalb durch die Gesellschaft für deutsche Sprache Ende 2016 zum «Wort des Jahres» gekürt.

Die Reaktionen der meisten Medienschaffenden, Politiker und Intellektuellen fiel sehr wohlwollend aus. So beklagt etwa der «Zeit»-Kulturredaktor Felix Stephan den Verlust des gesellschaftlichen Konsens, dass Vernunft und Belegbarkeit die Basis der Verständigung bilden sollen. Er empört sich über die Wahl eines Klimaleugners zum US-Präsident, obwohl 99 % der Klimaforscher keinen Zweifel am Klimawandel hätten. Selbstverständlich lieferte Stephan selbst keine Belege für seine Prozentzahl. Er fährt stattdessen fort, und lamentiert über die Uneinsichtigkeit der britischen Bevölkerung, die trotz der Warnungen «sämtlicher ökonomischer Institute» für den Brexit gestimmt habe. Demokratie, so wäre zu folgern, besteht nicht in freier Meinungsbildung, sondern in der Wiedergabe von Expertenmeinungen durch das Volk. Stephan ist nur eine unter zahlreichen Stimmen der linken und liberalen Eliten, die sich durch die Entwicklungen in der westlichen Welt vor den Kopf gestossen fühlen.

Stephan fasst das Credo der Vertreter der «postfaktischen» Zeitdiagnose aber konzis zusammen: «Unwahrheiten stehen gleichberechtigt neben Wahrheit, Glauben steht gleichberechtigt neben Wissen.» Bezeichnend ist, dass «Unwahrheiten» im Plural steht, «Wahrheit» aber im Singular. Einer Pluralität von Unwahrheiten steht eine, allein gültige Wahrheit gegenüber. Tatsächlich ist dies die epistemologische Grundannahme der «Postfaktiker». Wer eine Scheidung in Faktum und Lüge, in Wahrheit und Falschheit vertritt, lässt keinen Spielraum für abweichende Positionen, für Auseinandersetzung, Kritik und Diskussion. Der Begriff des «Postfaktischen» beendet die Diskussion und verknappt den Diskurs. Entweder man unterwirft sich der Wahrheit, oder man steht auf der Seite der Lüge – sei es als demagogischer Lügner oder als Opfer populistischer Manipulation. Eine Pluralität von Wahrheiten kommt nicht in Betracht. Schon Platon ignorierte im Theaitetos-Dialog die Möglichkeit einer Pluralität von Wahrheiten zugunsten einer singulären Wahrheit. Bekanntlich forderte er an anderer Stelle einen reinen Philosophen-Staat. Ein absoluter Wahrheitsbegriff und eine elitäre Gesellschaftsordnung scheinen schon bei ihm eng verknüpft zu sein.

Die Geschichtswissenschaft könnte hier Gegensteuer geben – auch wenn ideologische Vereinnahmungen auf allen Seiten des politischen Spektrums auch bei Historikerinnen und Historikern zuweilen zu fragwürdigen Komplexitätsreduktionen führen. Die Geschichtswissenschaft begreift Weltanschauungen und Wahrheitskonzeptionen historisch. Das kann eine Chance sein, die empirische Historizität und Relativität von Wahrheit gegen einen Wahrheitstotalitarismus gleich welcher Provenienz ins Feld zu führen. Drängt sich solche Kritik aber tatsächlich auf?

Der Eindruck, dass das Konzept des «Postfaktischen» vor allem der Elite dienlich ist, um einen Anspruch auf singuläre Faktizität und Wahrheit zu reklamieren, erhärtet sich bei der Lektüre vieler Pressekommentare. Dass sich darin der 2016 tiefer gewordene Graben zwischen linken und liberalen Eliten und den zurzeit zu rechtskonservativen Positionen tendierenden Mittel- und Unterschichten widerspiegelt, ist nicht entscheidend. Die Machtfrage steht gegenüber der Ideologiefrage im Vordergrund. Der Begriff «postfaktisch» ist letztlich ein Machtinstrument zur Degradierung Andersdenkender als ausserhalb der Wahrheit Stehender. Damit wird deutlich, wie gefährlich nahe sich die Vertreter «postfaktischer» Zeitdiagnosen am Rande des Totalitarismus bewegen.

Diese Behauptung ist keine aus der Luft gegriffene Polemik: Keine Woche war nach der Wahl zum «Wort des Jahres» vergangen, als die deutsche Politik ein hartes und rasches gesetzliches Vorgehen gegen so genannte «Fake News» forderte. SPD und CDU plädierten einhellig dafür, Facebook unter Bussandrohung zu verpflichten, «Falschmeldungen» und «Hassbotschaften» konsequent zu löschen. Kritische Einwände gegen diesen beispiellosen Eingriff in die freie Meinungsäusserung waren kaum zu hören. In Medien, Wissenschaft und Politik scheint man sich einig zu sein: Meinungen und Fakten sind zwei Paar Schuhe. Deviante Wahrheitsauffassungen können somit ohne ethische Bedenken durch gesetzliche Gewalt zum Schweigen gebracht werden – Big Brother lässt grüssen.

Ist die Welt tatsächlich so simpel? Der Begriff des «Postfaktischen» fixiert Wahrheit auf eine allein gültige, objektive Form und trägt dem Umstand nicht Rechnung, dass Wahrheiten aus verschiedenen Perspektiven, mit verschiedenen Methoden und Erkenntnisinteressen, und mit unterschiedlichem kulturellem und individuellem Hintergrund verschieden und manchmal auch gegensätzlich wahrgenommen werden. Im Gegensatz zum rationalistischen Konstrukt einer singulären Wahrheit lässt sich die These einer Pluralität von Wahrheiten historisch-empirisch stützen. Dass soll uns weder hindern, unsere Auffassung von Wahrheit leidenschaftlich zu vertreten, noch, uns plausibel erscheinende Auffassungen vehement zu kritisieren. Eine freiheitliche Demokratie setzt voraus, dass Wahrheit und auch so genannte «Fakten» verhandelt werden müssen. Wenn Trumps Chefstrategin Kellyanne Conway im Zusammenhang mit fragwürdigen Äusserungen ihres Präsidenten von «alternative Facts» spricht, mag das zunächst als verzweifelter Rechtfertigungsversuch erscheinen. Doch vielleicht eröffnet gerade diese Terminologie den nötigen Blick auf das Wesen der Fakten: Sie sind verhandelbar und niemals eindeutig.

Es wäre daher geboten, mit begründeten Argumenten für das eigene Wahrheitsverständnis einzutreten, im bescheidenen Bewusstsein, das man selbst nur einige von vielen «alternative Facts» vertritt. Auch das Schwingen der Populismus-Keule und die Diffamierung ganzer Bevölkerungsmehrheiten als unvernünftig und demagogenhörig sind nicht zielführend. Dasselbe gilt für die intellektuell aufgebauschte Theorie des «postfaktischen Zeitalters»: Der Versuch, eine absolute Wahrheit definieren zu wollen ist epistemologisch unsinnig und überdies eine diskussionsethische Bankrotterklärung.

By the way: Es steht jedem Leser und jeder Leserin frei, die «Wahrheit» anders zu sehen, als ich sie hier sehe.