HistorikerIn allein zu Haus? – 11 Arten, auch im Homeoffice an gute Quellen zu kommen

Viele Wege führen zu guten Quellen – auch von Zuhause aus. Wir stellen die besten vor.

Strassenszenen in Sarajevo und Hinrichtungen in London, Tessiner Zeitungen und Telefonieren mit Nonna, Online-Archiv und Privatbibliothek: Das sind die historischen Recherchetipps der etü-Redaktion – für alle, die gerne mal etwas anderes lesen als Corona-News.

Archiv statt Stubentisch, Seminararbeit statt Zoom-Meeting, produktiv statt prokrastinierend: So sollte das Leben von Geschichtsstudis sein. Aber ach: Zuhause eingesperrt ist es leichter, das Backen von Sauerteigbrot zu erlernen, als endlich mal etwas seriöse Quellenkritik zu betreiben.

Dass Universität und Archive geschlossen sind, hilft dabei nicht gerade. Das HistorikerInnendasein lebt schliesslich vom Versinken in modrigen Akten, vom Blättern in vergilbtem Papier, vom Geschmack des Archivs.

Das kann keine Digitalisierung und kein Online-Archiv ganz ersetzen. Und doch bietet die Suche nach Quellen von Zuhause aus auch Vorteile: Man muss sein Sofa dafür nicht verlassen, die Trainerhosen dafür nicht abstreifen – und man entdeckt mit weniger Aufwand andere und vielfältigere Quellen, als man es womöglich beim physischen Archivbesuch getan hätte. Weil man sich eher Seitenblicke in andere Archive oder Bestände erlauben kann.

Das sind elf Wege, im Homeoffice spannende Quellen zu finden – von digital bis analog, von der Antike bis in die Gegenwart. Ausgewählt von der etü-Redaktion, damit der Geschmack des Archivs auch in diesen Zeiten etwas durch unsere Wohnungen wehen kann.

Das Zeitschriften-Paradies: Die E-Periodica der ETH

Du kennst (und liebst) sie wahrscheinlich schon. Und auch in meinem Herzen wird die von der ETH-Bibliothek digitalisierte Zeitschriftensammlung für immer einen Platz haben. Schliesslich war sie im Monat vor dem Abgabetermin meiner Bachelorarbeit die Startseite meines Browsers. Schlauer wäre es gewesen, meine Quelle, die Zürcher «Lesbenfront», gleich ganz herunterzuladen, was mir so manchen Anflug von Technikpannen-Panik erspart hätte. Das geht allerdings bei den meisten der Zeitschriften «nur» artikelweise. Ich schreibe «nur», weil das Angebot sonst wirklich unschlagbar ist.

Fast 700 wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Zeitschriften aus den letzten dreihundert Jahren bis heute, die dank OCR im Volltext durchsuchbar sind, so unterschiedliche Themen wie ‚Thierheilkunde‘, Haushaltung in Graubünden, das Schweizer Militärwesen seit der Jahrtausendwende oder Kino in den 1920ern behandeln und für jede*n zugänglich sind – amazing. Auch ohne Deadline für das nächste Konzept sind die e-Periodica übrigens auf jeden Fall einen Besuch wert – mit den alten Ausgaben der A.Vogel-Gesundheitszeitschrift kannst du dein Immunsystem für Covid stärken, schauen, ob dich der Nebelspalter zum Lachen bringt, oder dich bei der Lektüre der Geschichte der Alpen zumindest geistig auf die nächste Wanderung vorbereiten.

Sophie Probst

Geschichten von Gerichten: Das Old Bailey in London

Titelbild eines Gerichtsprotokolls von 1684. (Quelle: Proceedings of the Old Bailey, 16.1.1684, S 1.

Am Strafgerichtshof Old Bailey in London wurde am 11. Juli 1677 ein Mann namens Richard Hazelgrove wegen Bigamie verurteilt. Um sich vor der Todesstrafe zu bewahren, verlangte er den sogenannten benefit of clergy, der es einer am weltlichen Gerichtshof angeklagten Person möglich machte, alternativ vor ein kirchliches Gericht gestellt zu werden und dort ein allenfalls milderes Urteil zu erhalten. Bedingung dafür war, dass die oder der Angeklagte einen alttestamentarischen Psalm während der Verhandlung korrekt rezitierte. Das Gericht bewilligte Hazelgroves Antrag. Da er jedoch nicht lesen und daher die erforderliche Bibelstelle nicht wiedergeben konnte, wurde er wie geplant hingerichtet. Im publizierten Urteil dienten diese Umstände sogleich als Anlass, Eltern und Kinder zu mehr Ernsthaftigkeit im Erlernen des Lesens anzuregen, denn «sometimes», so wurde festgehalten, «a man loses his life meerly for want of it».

Richard Hazelgroves Geschichte ist eine von Hunderttausenden, die sich heute in den fast 200’000 digitalisierten Gerichtsprotokollen und -urteilen des Onlinearchivs The Proceedings of the Old Bailey erkunden lassen. Die Fälle erstrecken sich über einen Zeitraum des späteren 17. Jahrhunderts bis hinein ins frühe 20. Jahrhundert. Wie das Beispiel Hazelgroves zeigt, sind die Protokolle der Datenbank für historische Fragestellungen besonders attraktiv, weil sie neben den konkreten juristischen Abläufen auch Aufschluss über die Lebensrealitäten breiterer Bevölkerungsschichten bieten, die sich sonst häufig nicht in den Quellen abbilden. Auch lohnt sich ein Blick in die Vielzahl von zeitgenössischen Anklagepunkten, neben Mord, Diebstahl und Brandstiftung finden sich auch Verfahren zum Verbergen einer Geburt, zum Geschlechtsverkehr mit Tieren oder dem besonders hart bestraften Abschaben von Münzen.

Die Website ist mit ausführlichen Anleitungen und Tutorials ausgestattet, die die Nutzung der Datenbank erleichtern. Der sehr umfangreiche Bestand lässt sich zudem nach Parametern wie Zeitraum, Art des Verbrechens oder Art des Urteils durchsuchen. Schliesslich finden sich auch diverse Informationen zum historischen Kontext des Old Bailey und zum Digitalisierungsprojekt allgemein.

Mira Imhof

In Kürze (I): Schmökern in antiken Klassikern
Perseus Digital Library ist eine Website mit altgriechischen und lateinischen Quellentexten. Sie eignet sich für ein erstes Zurechtfinden in den Quellen und das Identifizieren geeigneter Textstellen für eine Arbeit. Es ist aber von Vorteil, wenn man die exakte Stellen schon kennt. Sonst ist die Orientierung recht mühsam, da es keine Inhaltsverzeichnisse gibt. Es sind Übersetzungen (meist Englisch oder Deutsch) vorhanden, allerdings relativ alte. Für einen besseren Überblick, rascheres Blättern und eine neuere Übersetzung eignet sich wohl also eine gebundenen Ausgabe noch immer besser.
Carla Burkhard

Zeitungsarchive, mal anders (I): Verborgenes aus dem Tessin

Wohin nur mit dem nationalen Rechenzentrum? Politische Intrigen im Tessin der 1990er. (Quelle: Gazzetta Ticinese, 13.2.1990.)

Ich habe selten so geflucht. Ich stand kurz davor, das Manuskript für mein Buchkapitel abzugeben. Ich hatte Zeitzeugengespräche geführt und Quellen aus Archiven und Publikationen ausgewertet, meine These stand und der Text auch. Da stiess ich beim Googeln einer letzten Detailinfo auf ein Archiv, das die Hälfte davon wieder auf den Kopf stellen würde. Es war nicht so, dass ich vorher nicht danach gesucht hatte. Ich hatte – lange und erfolglos. Und jetzt war es einfach so da – das Online-Zeitungsarchiv der Biblioteca Cantonale di Ticino. Mit scheusslichem Layout, einer eigenwilligen Suchmaske und hunderten perfekt digitalisierten PDFs von Zeitungen aus der jüngeren Tessiner Geschichte.

Für alle, die sich dafür interessieren (und Italienisch können), bietet es den Blick einer sehr eigenen Randregion auf das Geschehen in der Schweiz und darüber hinaus. Von der EWR-Abstimmung 1992 über den Aufstieg der rechtspopulistischen Lega dei Ticinesi bis hin zur Geschichte des ersten nationalen Rechenzentrums der Schweiz (dem Thema meines Buchkapitels) – hier finden sich die Quellen dafür.

Das Archiv sieht nicht nach viel aus, ist über Suchmaschinen schlecht zu finden (hier der Link zur fast unauffindaren FAQ-Seite) und lässt bei einer zu breiten Suche das Anzeigen von Resultaten auch mal einfach aus, aber die PDFs sind sinnvoll beschriftet, die Schrifterkennung ist gut und bei einer nach Titeln oder Zeitperiode eingeschränkten Suche sind die Resultate verlässlich. Leider sind nicht alle Zeitungstitel von zuhause aus durchsuchbar und manche (etwa das notorische Lega-Blatt Il Mattino della Domenica) fehlen ganz, aber das macht die verfügbaren Titel umso interessanter – vor allem da es sich meist um längst wieder eingegangene Zeitungen handelt.

Giorgio Scherrer

Zeitungsarchive, mal anders (II): Ennet dem Röstigraben

Wie man Bankkunden mehr Komfort durch Digitalisierung erklärt: Eine Werbung der Post von 1995. (Quelle: L’Hebdo, 23.2.1995.)

Was vorbildlich digitalisierte Zeitungsarchive angeht, kann die Deutschschweiz nicht nur vom Tessin, sondern auch von der Romandie lernen. Währendem man sich hier alte Zeitungsartikel mühsam bei einzelnen Titeln zusammenklauben muss (die NZZ und die Schaffhauser Nachrichten etwa haben alle alten Ausgaben digitalisiert – allerdings nur für AbonnentInnen), gibt es jenseits des Röstigrabens einen Schatz: die wunderschön aufbereiteten vergangenen Ausgaben der Zeitung Le Temps. Dazu gehören auch die Archive von Vorgängerzeitungen wie dem Journal de Génève, der Tribune de Lausanne und dem Nouveau Quotidien aus insgesamt 200 Jahren (1798-1998). Nicht nur die Stichwortsuche ist vorbildlich mit kleinen Vorschauen auf die Artikel ergänzt, die Resultate lassen sich auch nach Artikeln, Pressebildern und Werbung filtern. Zusätzlich kann man leicht Grafiken zur Häufigkeit verschiedener Schlagwörter über die Zeit hinweg generieren – es muss also nicht immer der Ngram Viewer von Google sein.

Ebenfalls online (wenn auch separat auf dem Portal Scriptorium der waadtländer Kantonsbibliothek) gibt es PDFs diverser weiterer Zeitschriften aus der Romandie. Unter anderem finden sich dort alle alten Nummern des leider unlängst eingegangenen Monatsmagazins L’Hebdo, die gerade auch in punkto Design und Bildsprache viel hergeben (ein besonderes Highlight sind alte Werbungen). Auch für Neuenburger Zeitungen gibt es ein ähnliches Portal. Im Vergleich zur Deutschschweiz, wo man sich alte Ausgaben von Tages Anzeiger oder Magazin noch über Mikrofilm in der Zentralbibliothek besorgen muss, sind das – gerade in Homeoffice-Zeiten – paradiesische Zustände. Zeit also, das alte Französischbuch aus dem Gymi wieder hervorzukramen und sich hinter die welschen Quellen zu machen.

(P.S. Wer sich für kleinere oder vor längerer Zeit eingegangene Titel – etwa die Migros-Zeitung Die Tat – interessiert, wird sich natürlich auch über die E-Newspaperarchives der Nationalbibliothek freuen.)

Giorgio Scherrer

In Kürze (II): Vom Sofa aus ins Mittelalter
Die Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters sind ein bibliographisches Nachschlagewerk für erzählende Geschichtsquellen von 750 bis 1’500. Die Basis der Plattform ist das lateinisch verfasste «Repertorium Fontium Historiae Medii Aevi» (11 Bände, 1962-2007), das 2012 digital publiziert und seitdem kontinuierlich ergänzt wurde. Suchen lassen sich Autoren und Werke. Die Digitalisate selbst sind meist nicht direkt abrufbar, aber dafür erste Informationen und weiterführende Links zu den Quellen (via SFX). So kann die Suche nach Mittelalterquellen auch vom Sofa aus beginnen.
Die Bibliothek der Monumenta Germaniae Historica ist die weltweit grösste Spezialbibliothek zur mittelalterlichen Geschichte. Sämtliche Editionsbände sind digital verfügbar. Dank den Rubriken Geschichtsschreiber, Rechtstexte, Urkunden, Briefe, Dichtung und Gedenküberlieferung wird jeder Mittelalterhistoriker fündig, der seine Lateinkenntnisse seit dem Gymi nicht komplett verloren hat. Es gibt aber auch deutschsprachige Quellen.
Julia Vetter

Per Bildquelle durch die Geschichte (I): Künstler, Kataloge, Karikaturen

«Wir haben durch den Krieg und alles was danach kam kostbare Jahre verloren. Unwiederbringlich verloren?» Das fragte eine Autorin des illustrierten Berliner Monatsmagazins UHU im Jahr 1927. Und antwortete sogleich hoffnungsvoll: «Man hat auf der ganzen Welt gegen das Altern eine Mobilmachung in Gang gesetzt.» Den Traum von ewiger Jugend, der in dieser Reportage mit Berichten von abenteuerlichen Verjüngungspraktiken genährt wird, gibt es also nicht erst seit gestern. Dass er in im Deutschland der 1920ern besondere Hochkonjunktur hatte (siehe etü HS19), erfährt man dank dem UHU. Und diesen wiederum kann man über seine gesamte Erscheinungszeit (1924-1934) integral online lesen – dank arthistoricum.net.

Arthistoricum ist ein deutscher Fachinformationsdienst, in dem verschiedenste Quellen ab der Neuzeit online als Digitalisate und als Textkollektionen zu finden sind. Der Schwerpunkt liegt auf kunsthistorisch relevanten Quellen (so sind verschiedenste Ausstellungskataloge, Künstlerverzeichnisse und Kunstzeitschriften zu finden), aber auch für HistorikerInnen kann dieser Dienst sehr hilfreich sein. Zu finden sind zum Beispiel Textquellen wie Kataloge von Weltausstellungen, Satirezeitschriften, Illustrierte Magazine der klassischen Moderne, verschiedene Werbegrafiken, Ausstellungskataloge der DDR und so weiter. Auch Bildquellen lassen sich hier einfach und unkompliziert finden – von Karten über Karikaturen bis hin zur Arbeiterfotografie.

Dazu verlinkt die Seite auch zu vielen weiteren Datenbanken sowie zu deutschen Universitätsbibliotheken und deren Archiven. Für KunsthistorikerInnen interessant ist auch die Bibliographien-Sammlung, die zu verschiedenen Themen relevante Literatur bereitstellt.

Julia Vetter

Per Bildquelle durch die Geschichte (II): Alltag in Südosteuropa

Junge Muslimin mit Kind, Sarajevo ca. 1920. (Quelle: VIF/VASE.)

Mehrere Tausend Fotografien und Postkarten aus dem 19. und 20. Jahrhundert, von verschiedenen Standorten wie Österreich, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien und Serbien sowie der Türkei – das haben Forschende der Universitäten Basel und Graz für den Aufbau dieses Onlinearchivs zusammengetragen. Das «Visual Archive Southeastern Europe» (VASE) vereint ausserdem Sammlungen visueller Quellen aus verschiedenen Forschungsprojekten unter sich.

«Visualizing Family, Gender Relations and the Body. The Balkans approx. 1860-1950» (VIF) beschäftigte sich beispielsweise mit unterschiedlichen Formen der fotografischen (Selbst-)Repräsentation von Familien und Individuen im Osmanischen Reich, Österreich-Ungarn und Jugoslawien. Hier ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zum Beispiel der Fokus auf die Kleidung interessant, wo sich traditionelle und moderne, rurale und urbane Einflüsse ausmachen lassen (siehe hierzu das Bild zum Beitrag). Das regt auch zum Nachdenken über zeitgenössische Auseinandersetzungen mit Geschlecht, Religion oder Körperlichkeit an. «A Visual Approach to Explore Everyday Life in Turkish and Yugoslav Cities, 1920s and 1930s» eröffnet wiederum Perspektiven auf das städtische Leben sowie den sozioökonomischen Wandel im Sarajevo, Istanbul, Belgrad und Ankara der Zwischenkriegszeit.

Das Onlinearchiv ist übersichtlich gestaltet und lässt sich spezifisch nach Themen, Zeitraum und Region durchsuchen. Es finden sich zudem Informationen zur Entwicklung der Datenbank sowie zu den einzelnen Forschungsprojekten – und ausserdem eine hilfreiche Literaturliste für die weiterführende Recherche.

Mira Imhof

In Kürze (III): Von armen Teufeln und König Humbug.
«Der Arme Teufel»: Das ist nicht nur, wer zurzeit wegen geschlossenen Archiven und Bibliotheken zuhause sitzt, sondern auch das 1903-1929 erschienene «Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Luxemburgs». Das wissen wir dank dem Schweiz-Luxemburgischen Digitalisierungsprojekt impresso. Sein Ziel: «Mining 200 years of historical newspapers» – und zwar mit Fokus auf deutsch- und französischsprachige Artikel aus den beiden Trägerländern. Besonders interessant: Das Projekt läuft noch, viele der Quellen sind also potentiell unbearbeitet. Wer die aktuell verfügbaren 76 Zeitungen durchstöbern will, kann für akademische Zwecke per Mail ein Login anfordern. Und zum Beispiel den «Armen Teufel» nach Personennamen, Werbeanzeigen, Bildern und der Häufigkeit spezifischer Begriffe durchsuchen – oder sich schlicht an Spottversen über den dekadenten Adeligen «König Humbug» erfreuen.
Menoa Stauffer

Nonna, erzähl: Die Familie als Quelle

Vom armen Norditalien in die reiche Schweiz: Manche Geschichten erfährt man erst, wenn man danach fragt. (Quelle: privat.)

Wir sollten es in diesen Zeiten ohnehin tun: unsere alten Verwandten anrufen und ihnen helfen, Angst und Langeweile zu vertreiben. Und warum nicht das Angenehme – den Anruf – mit dem Nützlichen – der Forschung für das Studium – verbinden? Denn diese Menschen – unsere Grosseltern und Grosstanten, angejahrten Nachbarn und alten Bekannten – haben oft einiges zu erzählen, wenn man ihnen denn zuhört. Als in einem Seminar einmal die Aufgabe gestellt wurde, eine Geschichte aus der eigenen Familie aufzuschreiben, kamen die wildesten Dinge zusammen: Geschichten von Migration, Verdingung, Krieg und Emanzipation.

Es gibt dabei allerdings ein paar Hürden zu meistern. Die einen wollen gar nicht über ihr Leben sprechen, was man akzeptieren muss. Andere glauben, sie hätten in einem formellen Interview nichts zu sagen, weshalb man mit ihnen besser in lockerem Setting über ihr Leben plaudert. Neugierde zu zeigen, ohne aufdringlich zu sein: Das ist dabei die Kunst.

Bis aus Geschichten Geschichte wird, braucht es aber noch mehr: kritische Distanz, zusätzliche Recherchen, Kontext – und vor allem einiges an Arbeit. Das Klischee, wonach ein familiäres Forschungsthema auch am leichtesten zu bearbeiten ist, könnte falscher nicht sein. Gespräche führen, aufnehmen, transkribieren, weitere Dokumente aus dem Familienkreis und aus Archiven zusammensuchen: Das ist alles nicht ohne – vor allem wenn einem die geschilderten Schicksale näher gehen als sonst.

Und trotzdem lohnt es sich. So schrieb ich etwa vor einigen Jahren einen Artikel über meine Mutter und meine Grossmutter (im Bild) – eine Aufstiegsgeschichte über zwei Generationen italienischer Immigrantinnen. Und kürzlich hörte ich, dass eine befreundete Gymilehrerin den Text mit einer Klasse gelesen hatte, in der selbst viele ausländische Wurzeln hatten. Er habe eine lebendige Diskussion ermöglicht. Noch nie hatte ich so sehr das Gefühl, mit Schreiben etwas Sinnvolles bewirkt zu haben.

Giorgio Scherrer

Quellen aus dem Regal: Plädoyer für die Privatbibliothek

Homeoffice in der Gelehrtenstube: Die Bibliothek von etü-Redaktor Michael D. Schmid. (Foto: Ebendieser.)

Manche Studierende haben, wie man hört, gar keine Wohnung und kein WG-Zimmer, sondern sind im KO2-Trakt der Universität mietzinspflichtig – weil sie gefühlte 24 Stunden pro Tag in der HS-Bibliothek verbringen. Bei mir sind es keine zwei Stunden – pro Jahr! Wenn ich ein Buch brauche, hole ich mein Buch, und gehe wieder. Aber sehr oft ist das gar nicht nötig. Denn meine Bibliothek steht zuhause. Sie ist mein externalisiertes Gedächtnis, mein Wissensnetzwerk aus tausenden von Texten. Hier finde ich nicht nur Nachschlagewerke und Darstellungen, auch an potentiellen Quellen findet sich vieles in meinen Regalen: von Editionen bis zu literarischen Klassikern.

Das Homeoffice, das für manche Studierende ein Graus sein muss, praktiziere ich seit Jahren. Natürlich ist die Anschaffung tausender Bücher kostspielig und lässt mein Konto regelmässig leer aussehen. Und dann ist die Investition noch nicht mal etwas wert, denn gebrauchte Bücher sind auf dem Markt nahezu wertlos. Umso lohnender ist die Investition in ideeller Hinsicht: My home is my castle archive.

(P.S. Zahlreiche Buchhandlungen und Antiquariate – KLIO zum Beispiel – sind offen für eure Online-Bestellungen.)

Michael D. Schmid

Studieren in Zeiten von Corona: Der etü schreibt Tagebuch
COVID19 hat unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Wie lebt es sich als Geschichtsstudent_in im Lockdown? Die etü-Redaktion erzählt in einer Corona-Serie aus ihrem Alltag.
Hier geht es…
… zu Teil I: Tocotronic lügt!
… zu Teil II: Sauerteig, Seneca und Sorgenweltmeister
…zu Teil III: Auf fünfzig Quadratmetern eine ganze Welt