Etü abroad – Perth: Die isolierteste Stadt der Welt

Perth hat neben wenigen alten Bauten und ein paar guten Museen nicht viel Kulturelles zu bieten. Die Stadt ist ein Bild ihrer relativ jungen Kolonialgeschichte: Die Swan River Colony wurde 1829 gegründet.

Für Millionen junger Europäer:innen gilt es als Traumdestination für monatelanges Work & Travel und endlose Surf-Roadtrips. Dass unter der «easygoingness» Australiens tiefe Gegensätze zwischen der weissen Bevölkerung und den Aborigines liegen, wird dabei gerne übersehen. Ein halbes Jahr in der isoliertesten Stadt der Welt voller Klischees, Traumstränden und Ernüchterung.

Im Vergleich zu vielen anderen Austauschstudis, die ich während meiner Zeit in Perth getroffen habe, war es nie mein Traum gewesen, eines Tages nach Australien zu reisen. Die University of Western Australia war vielmehr ein Kurzschlussentscheid gewesen, der von Faszination für das weit Entfernte und einem kürzlich entfachten Interesse für Aboriginal History getrieben war. Ich wusste von der starken Zerrissenheit innerhalb Australiens, einem Staat, der die Aborigines und Torres Strait Islander People erst 1967 als Staatsbürger:innen mit Rechten in die Verfassung aufgenommen hatte und deren Existenz weiterhin von Marginalisierung und Trauma geprägt ist. Diese Gegensätze und meine mehr oder weniger nüchterne Erwartungshaltung haben meinen Eindruck von Australien immer wieder geprägt und mir nicht selten Kopfzerbrechen bereitet, was es für mich als weisse und privilegierte Europäerin bedeutet, ans andere Ende der Welt zu fliegen, um dort zu studieren, aber eben auch zu reisen, Wellenreiten und geniessen.

Der regelmässige Surf frühmorgens vor der Uni mit einer Gruppe von Freund:innen hat mich immer wieder daran erinnert, wie schön es ist, am Meer zu leben. Das Wasser ist aufgrund Westaustraliens Nähe zur Antarktis immer ziemlich kalt.

Collegetrubel und warm breakkie

Mein Alltag war erstaunlich ähnlich und doch komplett anders als er es in Zürich jemals war. Statt jeden Tag mit meiner WG-Mitbewohnerin im Pyjama WOZ-lesend am Frühstückstisch zu sitzen und dem Reifenquietschen und Geschrei der Langstrasse zu lauschen, lief ich im College von meinem spartanisch eingerichteten Zimmer in den Speisesaal, um mir dort am Buffet ein Müsli zu machen und mich an einen der Duzenden Tische zu setzen. Die Auswahl zwischen Wassermelone, Ananas, Orange und Passionsfrucht (alle aus Australien) war grossartig und irgendwie befremdlich zugleich. Zwischen 7 und 9 Uhr gab es ausserdem Rührei, Sausages, Bacon, Mushrooms, Beans und Hash Browns. Es dauerte ungefähr drei Monate, um mich daran zu gewöhnen, mich bei jeder Mahlzeit für einen Tisch voller Menschen entscheiden zu müssen. Die Erfahrung im College war einzigartig, länger als ein Semester hätte ich jedoch nicht dortbleiben wollen. Ein Haus zu mieten und eine WG zu gründen, was dort üblicher ist als in eine bereits bestehende WG einzuziehen, wäre möglich gewesen, der organisatorische Aufwand jedoch beträchtlich. Obwohl das gemeinsame Kochen im vertrauten Wohnumfeld immer wieder gefehlt hat, erlaubte mir das College-Leben ohne grossen Aufwand neue Menschen kennenzulernen. Durch die oft zufällig zusammengewürfelten Gruppen entstanden immer wieder unerwartete Gespräche und die Pläne für den Abend entstanden und veränderten sich oft von einem Moment auf den anderen. Die Woche vor Semesterbeginn war vollgepackt mit Campus-Touren, Ausflügen und Partys. Sowohl College als auch Uni haben den Einstieg in den neuen Alltag definitiv erleichtert. Als eher introvertierte Person konnte die konstante Möglichkeit, irgendwo mitzugehen oder dabei zu sein, jedoch auch ziemlich überfordernd sein.

Wein aus der Tüte und früh nach Haus

Die Ansprechpersonen an der UWA kannten wir Austauschstudis persönlich und während des ganzen Semesters wurden Veranstaltungen angeboten. Die oft oberflächlichen Bekanntschaften zu vertiefen, stellte sich jedoch oft schwerer heraus als erwartet, da man sich selten verabredete und viel Zeit in Gruppen verbrachte. Dass die Colleges alle in Laufdistanz zum Campus sind ist total praktisch, verstärkt jedoch das Bubble-Dasein um einiges, da sich alles zwischen Uni und College abspielt. Dort gab es regelmässig Formal Dinners, bei denen sich alle in Schale warfen, gefolgt von Silent Discos mit Wein aus der Tüte. Nach Perth dauert es mit dem gratis Bus nur 20 Minuten oder eine Stunde zu Fuss durch den wunderschönen Kings Park. Zum Meer braucht man ungefähr eine halbe Stunde. Dennoch fährt man letztlich nur fürs Museum, eine Bar oder einen Club in die Stadt. Das Nachtleben ist äusserst verhalten und für den Club geht man meistens schon um halb 10 los. Auch Cafés schliessen meistens schon um 2 oder 3 und sind sonntags oft ganz zu, was an der gesetzlich festgelegten Verdoppelung des hohen Mindestlohns an Wochenenden liegt. Die Australier:innen sind ziemlich sportlich und verbringen ihre Freizeit meist im Meer, beim Footie (nicht Soccer) oder beim Barbecue am Strand.

In diesem Gebäude fand die Empfangszeremonie mit Orgelspiel und einer Rede auf Noongar statt, der indigenen Sprache der Aborigines in dieser Gegend.

Im Affengalopp durch die Geschichte

Der Campus der UWA ist eine wunderschöne Synthese aus Hogwarts und Dschungel. Zwischen Palmen und riesigen Eukalyptusbäumen ragen Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert hervor. Weisse Pfauen stolzieren über den Rasen und dicke Koi-Karpfen schwimmen in einem kleinen Teich. Der Campus ist riesig und erstreckt sich am Swan River, hinter dem die Wolkenkratzer der grossen Rohstoffkonzerne emporragen, denen Westaustralien seinen Reichtum verdankt. An sonnigen Tagen war der Weg zur Uni beinahe meditativ mit dem Gezwitscher von smaragdgrünen Vögeln und dem Geschrei von rosa Kakadus. Anders als in Zürich, werden nicht jedes Semester neue Seminare angeboten, sondern es gibt einen Katalog mit Kursen von first-year bis third-year Niveau, die jedes Jahr von Neuem angeboten werden. Statt Einführungsvorlesungen und Proseminaren sind die Themen der Kurse sehr breit gefasst und darauf ausgerichtet, einen Zeitbereich oder ein Thema möglichst umfassend abzustecken. Währendem ich mich in Zürich nicht selten in einem Seminar verzweifelt gefragt habe, wie ich bei diesem spezifischen Inhalt jemals einen Überblick gewinnen soll, ging es mir an der UWA genau umgekehrt. Kurse mit reisserischen Titeln wie «Clash of Empires 1250-1750» oder «Europe to Hell and Back 1890-1945» hielten ihr Versprechen. Bei so viel «longue durée» war es uns Studis oft nicht mehr erlaubt, vertieft Fragen zu stellen, da Seminare nur 50 Minuten dauerten. Dort mussten wir meistens im Affengalopp vor der ganzen Runde vorformulierte Fragen zum Lesestoff beantworten, der vom Aufwand her mit Zürich vergleichbar ist. Alle Kurse haben den Umfang von 7 Credits und bestehen sowohl aus Vorlesungen als auch Seminaren. Während des Semesters fallen mehrere Essays, Quellenanalysen und Prüfungen an. Das ist zwar praktisch, da das Semester mit Ende des Austauschs auch wirklich zu Ende ist, jedoch auch ziemlich intensiv.

Die Studybreak in der Mitte des Semesters erlaubte einen Roadtrip in den Norden Australiens. Mit Podcasts und langen Gesprächen fuhren wir in 10 Tagen 2400 Kilometer. Das entspricht der Distanz von Zürich nach Istanbul.

„Wanderlust“ und koloniales Erbe

Australien war ein Kulturschock voller Überraschungen, aber auch vielen erfüllten Klischees. Die Aussies sind hilfsbereit, laid-back und lieben Vegemite auf Crumpets (Hefeaufstrich auf löchrigem Weissbrot). Vor jeder Vorlesung wird anerkannt, dass man sich auf indigenem Noongar-Land befindet, in Giftshops gibt es Shirts und Tassen mit Aboriginal Artprints und dennoch sind die meisten Obdachlosen in Perth BIPoC und 75% der Kinder und Jugendlichen der Jugendstrafanstalt der Stadt sind von indigener Herkunft. Solche Zahlen schockieren, Diskussionen über die koloniale Vergangenheit und Gegenwart beschränkten sich jedoch weitgehend auf Seminare. Für viele Austauschstudis war mit Australien der grosse Traum von Freiheit und «Wanderlust» in Erfüllung gegangen. Die Bereitschaft, sich mit den dunklen Seiten Australiens zu befassen war dabei oft eher gering. Trotz viel Ernüchterung und Heimweh nach Bergen und Zürcher Altstadt kamen mir beim Abheben im Flugzeug doch die Tränen. Mit Nostalgie und nicht zuletzt etwas Selbstironie behalte ich meine Zeit in Australien in Erinnerung und bin bestärkt in meiner Haltung, dass eine Reise zum riesigen Kontinent mit der Verantwortung zur kritischen Auseinandersetzung mit dessen Geschichte und sich selbst einhergeht.

Etü abroad Rating

Uni – Vom Taylor Swift Appreciation Club zur Left Action
★★★☆☆
Mit seinen hunderten von Clubs und Appreciation Clubs, die neben EDM, Gin und Taylor Swift auch Bubble Tea huldigen, gibt es auch Clubs wie Amnesty und eine kleine aktivistische Gruppe, die immer an einem Stand mit Flugblättern am Campus vertreten war. Unbedingt einen Kurs im Bereich Aboriginal History/Kolonialgeschichte nehmen. Es mag Zufall sein, doch in zwei Seminaren war der Lehrstil leider ziemlich autoritär. Nachdem uns immer wieder die Durchfallquote von 37% der letztsemestrigen Studis vorgehalten wurde, lautete der erbauliche Hinweis zum Essay nur: If you do not set the footnotes correctly, you will fail miserably.

Freizeit – Velo war leider gestern
★★★★☆
Surfen, Surfen, Surfen. Morgens vor der Uni und am Wochenende. Nach Perth geht man nicht in erster Linie, um in der isoliertesten Stadt der Welt zu leben, sondern für die atemberaubenden Nationalparks Westaustraliens mit ihren kilometerlangen Stränden und türkisen Wellen. Ohne Auto wird all das jedoch etwas schwer. Ob gemietet oder gebraucht gekauft: um etwas zu sehen braucht es mehr als ein Velo. Auf dem Weg zum Meer wurde ich sogar mal aus schierem Unglauben über mein Fortbewegungsmittel angehupt. Bierpong in vollgestopften spartanischen Collegezimmern en masse. Wenn man sich in der alternativen Musikszene zuhause fühlt, wird der Ausgang in Perth enttäuschen, der im Jahr 2010 steckengeblieben ist. Die Hafenstadt Fremantle bietet dafür mit schummrigen Pubs, Folk Open Mics und süssen Bücherläden auf. Bier kostet übrigens mindestens 7 Franken und Vokuhilas sind das Äquivalent des Buzz Cuts und gelten nicht als alternativ, sondern eher als überholt und hinterwäldlerisch.

Wohnen – Where the hell is my privacy?
★★☆☆☆
Gäste dürfen nur 3 Nächte am Stück bleiben und das Fenster ähnelt einer Schiessscharte. Dennoch, für ein paar Monate im eigenen College-Film zu leben und eine Viertelstunde vor der Vorlesung noch einen Kaffee rauszulassen, hat seinen Charme.