Dritter Tag: Quer durch die sozialen Schichten und zurück

Die Agglomeration blieb Programm. Der letzte Tag unserer etü-Genève-Reise führte uns zuerst nach Carouge. Die beschauliche Vorstadt von Genève war noch 1760 kaum besiedelt. Doch als das Gebiet im 18. Jahrhundert an Savoyen fiel, das seit Jahrhunderten mit Genève im Disput um die Regionalhegemonie stand, explodierte das Wachstum. Der Herzog von Savoyen und König von Sardinien Charles-Emmanuel III. liess von seinen sardinischen und piemontesischen Architekten Richtpläne erstellen, und so entstand in den folgenden Dekaden eine Planstadt im Schachbrettmuster mit zweistöckigen, auf soziale Durchmischung angelegten Häusern, zwei Marktplätzen und katholischer Kirche (1777). Direkt vor den Toren von Genève entstand so eine wirtschaftliche und konfessionelle Gegenmacht. 1816 wurde Carouge allerdings Genève und damit der Eidgenossenschaft zugeschlagen, und die Reformierten konnte 1818-21 ihren eigenen Temple in gräzisierendem Tempel-Stil errichten. Ein Rundgang durch das Städtchen führte uns an beiden sehenswerten Kirchen vorbei und die Zeit erlaubte einen Zwischenstopp in einem sympathischen Café und einen Kurzbesuch des Flohmarktes.

Märt

Dann begaben wir uns in einen denkbar andersartigen, und doch in mancher Hinsicht ähnlichen Winkel der Agglomeration. Das Prinzip der Planstadt und der organisierten sozialen Durchmischung treffen nämlich auch auf Le Lignon zu. Die 1963-71 erbaute gewaltige Siedlung umfasst drei Wohnbauten – zwei bis zu 30 Stockwerke hohe Hochhäuser, und einen 1.6 km langen, mehrfach abgewinkelten Wohnblock, der als längstes Wohnhaus Europas gilt. Die unter der Führung des Architekten Georges Addor realisierte Siedlung besticht durch eine hohe Dichte trotz sparsamer Bodennutzung (nur 8% des Areals sind bebaut). Die Konzentration der Wohnungen auf einen langen Block erlaubt einen unzerstückelten Freiraum in der Mitte und unbeschattete Wohnungen. Die Wohnungen zu drei, vier oder fünf Zimmer sind für subventionierte MieterInnen, konventionelle MieterInnen und StockwerkeigentümerInnen exakt gleich gross angelegt, worin sich die egalitäre Gesinnung der Architekten und Bauherren (öffentlich-private Partnerschaft) spiegelt. Ein gebautes Stück Sozialgeschichte. Wir dinierten festlich mit Obst und Sandwiches am Fusse der Hochhäuser und spazierten anschliessend durch die weitläufige Parkanlage des Lignon. Locker in die Freiräume eingefügt sind die Infrastrukturbauten der Siedlung: Ein Parkhaus, ein Centre Commercial mit Cafés, Läden und Postamt, ein Centre Médical, ein Schulhaus, eine Salle des Fêtes, eine Eglise catholique und ein Centre réformée sind locker über das Areal verteilt. Es wurde uns klar, das Le Lignon keine Schlafsiedlung, sondern ein lebendiger suburbaner Mikrokosmos ist. Dies bestätigte uns Ruth Rhigenzi, die Präsidentin der Assemblée des Locateurs. Sie zeigte uns ihre Wohnung und erzählte ihre Erfahrungen und Eindrücke, die sie während 46 Jahren als Mieterin der Überbauung gemacht hatte. Diese spannende Begegnung beschloss unser Programm.

Bild Gruppe

Unsere Gesichter auf der Rückfahrt im Bus zeugten von einem erlebnisreichen Wochenende mit langen Nächten – ja, auch die Müdigkeit stand jedem von uns ins Gesicht geschrieben. Spontan beschlossen wir, die internationale Küche Genèves bei einem zufällig entdeckten Streetfood-Festival ein letztes Mal zu geniessen. Dann verliessen wir an Bord unseres Zugs die Calvin-Stadt und ratterten allmählich wieder der Zwingli-Stadt diesseits des Röstigrabens entgegen. Fazit: Das Ergebnis lohnte den Aufwand der Reiseplanung. Die historischen Stätten, die architektonischen Highlights, das gute Essen und das Calvinus-Bier, und die gute Gemeinschaft unserer (vorzugsweise in Denglisch talkenden) Reisegruppe werden in Erinnerung bleiben.