Zwei britische Schweigeminuten am Genfersee

Es ist eine Versammlung der Expats und Botschafter*innen: Die einzige Erinnerungszeremonie für das Ende des ersten Weltkriegs in der Schweiz in Vevey. Bild: Manuel Kissoczy

Am 28. Juni 1914 wurde in Sarajevo Franz Ferdinand von Österreich und dessen Ehefrau ermordet. Was folgte, war ein Konflikt von globalem Ausmass, an dessen Folgen auch heute noch rund um die Welt erinnert wird. Auch hierzulande findet jährlich eine Gedenkzeremonie statt. Um herauszufinden, was es mit diesem erinnerungskulturellen Anlass in der geschichtsvergessenen Schweiz auf sich hat, ist unser Autor letzten November an den Genfersee gereist.  

In Flanders fields the poppies blow
Between the crosses, row on row…
That mark our place; and in the sky
The larks, still bravely singing, fly
Scarce heard amid the guns below.

We are the Dead. Short days ago
We lived, felt dawn, saw sunset glow,
Loved and were loved, and now we lie
In Flanders fields.

Take up our quarrel with the foe:
To you from failing hands we throw
The torch; be yours to hold it high.
If ye break faith with us who die
We shall not sleep, though poppies grow
In Flanders fields.

Dieses Gedicht von John McRae wird in Kanada jedes Jahr im Gedenken an gefallene Soldaten vorgetragen, während eine grosse Menschenmenge mit angesteckten Plastik-Mohnblumen andächtig innehält. Bei uns hingegen ist der Brauch des Erinnerns an vergangene Kriege fast gänzlich unbekannt. Ausser einem vernachlässigten Denkmal auf der Forch erinnert hierzulande nur wenig an vergangenes Kriegsleiden. Im Gegensatz zu unseren Nachbarn hat die Schweiz einen markant anderen Bezug zum Krieg. Aber wieso erinnern wir uns auch daran so wenig? Waren wir geographisch zu weit entfernt – und sind es nach über hundert Jahren auch zeitlich?  

Die Gründe sind komplexer. Im Gegensatz zu anderen Nationen bekennt sich die Schweiz einerseits zu einer offiziellen Neutralität. Andererseits hat sie heute keine Armee von Freiwilligen, denen meist mehr Dankbarkeit entgegengebracht wird als denen, die mit dem Militärdienst bloss ihre Pflicht tun. Noch zentraler für die lebendige Erinnerungskultur vieler anderer Nationalstaaten ist aber, dass diese oft grosse Verlust an Soldat*innen und zivilen Mitbürger*innen in zahlreichen Konflikten und Kriegen zu beklagen haben.

Um daran zu erinnern, werden fast überall auf der Welt Gedenkfeiern organisiert. In den Ländern des Commonwealth, die im ersten Weltkrieg teilweise noch als selbstverwaltete Kolonien unter der Flagge des British Empire gekämpft hatten, erinnert man mit dem Remembrance Day am 11. November jeweils an die Kriegstoten, die seit dem ersten Weltkrieg gefallen sind. Ursprünglich als Armstice Day ein Feiertag der «Elften Stunde des Elften Tages des Elften Monats», dem Datum des Waffenstillstandes des Ersten Weltkrieges, wurde die Bedeutung später ausgeweitet. Seit sich der «War to End all Wars» doch nicht als der letzte Krieg der Geschichtsschreibung entpuppte, erinnert man sich zum Remembrance Day auch an die Gefallenen nachfolgender Kriege und Konflikte.

Von den Feldern Flanderns über die Poesie in die Erinnerungskultur: Mohnblumen sind das zentrale Symbol des Gedenktages. Bild: Manuel Kissoczy

Kanada – die «battle born nation»

Wenn man die jüngere Geschichte vieler Commonwealth-Staaten betrachtet, ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Remembrance Day bis heute ein gemeinsames Ritual darstellt. Denn auch nach dem Ersten Weltkrieg kämpften die ehemaligen Kolonien als Block weiterhin gemeinsam. Zudem erlangten viele Commonwealth-Staaten ihre formelle Souveränität erst in den 1980er Jahren, und ihre moderne Geschichte ist deshalb bis heute eng mit derjenigen Grossbritanniens verknüpft. Königin Elizabeth II ist in den meisten Fällen bis heute das Staatsoberhaupt. Kanada, das erst 1982 vollständig in die Unabhängigkeit entlassen wurde, hat deshalb eigentlich nur eine kurze Vergangenheit als souveräner Staat. Die «Ursprünge» der «kanadischen Nation» hingegen werden bedeutend früher angesiedelt – zum Beispiel im Ersten Weltkrieg.

In der Schlacht bei Vimy 1917 kämpften kanadische Einheiten innerhalb des britischen Heeres zum ersten Mal als Verband zusammen. In dieser Zusammenstellung eroberten die kanadische Gruppe einen strategisch wichtigen Hügelzug von der preussischen Armee. Gleichzeitig war das restliche britische Heer, ebenso wie die an ihrer Seite kämpfenden französischen Einheiten, ausserordentlich erfolglos. Dadurch setzten sich die kanadischen Truppen vom Rest ab und wurden daraufhin von deutscher und von britischer Seite auch als Einheit bezeichnet. Obwohl die Mehrheit der damaligen Soldat*innen gar nicht in Kanada zur Welt gekommen ist, wird dieser Erfolg der kanadischen Einheit in der offiziellen Geschichtsschreibung oft als die Geburtsstunde der kanadischen Nation bezeichnet («battle born nation») und die Erinnerung daran wird dementsprechend grossgeschrieben.

Heutzutage wird der Fokus des Remembrance Day allerdings immer mehr auf das Feiern und Bewahren des Friedens gelegt. Dadurch verringert sich je länger je mehr auch der Graben zwischen Franko- und Anglo-Kanadier*innen. Vor allem der Erste Weltkrieg wurde nämlich oft als britische Angelegenheit angesehen, von dem sich die französischsprachige Minderheit distanzierte. Seit die meisten neuen Einwanderer*innen nicht mehr aus Grossbritannien und Frankreich stammen, stellt sich inzwischen aber auch die Frage, ob die doch sehr anglo-kanadisch gefärbte Erinnerungsgeschichte nicht auch neue Gräben aufreisst zwischen Alt- und Neueingewanderten. 

In Kanada kommt der Erlös verkaufter Mohnblumen-Anstecker einer Stiftung zugute, die sich um Soldat*innen mit posttraumatischer Belastungsstörung kümmert. Bild: Manuel Kissoczy

In meinen letzten sechseinhalb Jahren in Vancouver habe auch ich mir die Tradition angeeignet, jedes Jahr die rote Mohnblume anzupinnen und die Gedenkfeier zu besuchen. Der Remembrance Day ist nämlich ein solch zentraler Gedächtnisort in der englisch-kanadischen Leitkultur, dass diesen Tag auch neo-Kanadier*innen zelebrieren. Mitstudierende jeglicher politischen Färbung sassen an jedem unterrichtsfreien 11.11. im War Memorial Gym der University of British Columbia, das sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Andenken an die im Krieg gefallenen Student*innen erbaut worden war.

Wieso die Schweiz den Kriegsbeginn feierte

Da ich in der Schweiz aufgewachsen bin, kannte ich diese Form des Erinnerns durch Gedenkfeiern zuerst gar nicht. Der rechtlichen Neutralität der Schweiz wird genauso wenig gedacht wie der riesigen Bedeutung der zwei Weltkriege für ihre politische und soziale Entwicklung.  Dies kann dem Fehlen einer Freiwilligenarmee geschuldet sein, oder dem Gefühl, die gesamte Bevölkerung habe damals dazu beigetragen, die Souveränität zu wahren. Jedenfalls gibt es hierzulande ausser Denkmälern, an denen man jahrelang vorbeiläuft, ohne ihre Bedeutung zu kennen, keine wesentliche Kultur der Erinnerung. Und auch die «Aktivdienstgeneration» stirbt langsam aus, und mit ihr die aktive Erinnerung an Kriege in unmittelbarer Umgebung der Schweiz.

In der Schweiz wurde bisher eher dem Kriegsbeginn des zweiten Weltkrieges gedacht, da dies hierzulande auch ein entsprechend einschneidendes Ereignis war – verbunden mit zahlreichen weitreichenden staatlichen Massnahmen wie der Notrationierung von Nahrung, der Generalmobilmachung und der geistigen Landesverteidigung. Letzterer dürften wir auch den bis in die 1990er-Jahre andauernden erinnerungskulturellen Fokus auf den Kriegsbeginn statt auf das Kriegsende verdanken. Denn ähnlich wie in Kanada liegt der Ursprung des heutigen Selbstverständnisses der Schweiz in der Abgrenzung von gleichsprachigen Nachbarstaaten durch ein Hervorheben von Ereignissen, kulturellen und sprachlichen Unterschieden. Der Kriegsbeginn markierte auch eine Umkehr der Auslegung des Konzeptes der geistigen Landesverteidigung: Aus einer vorwärtsgewandten Anfangsidee schweizerischer Künstler*innen, durch Förderung der einheimischen Kunst dem Faschismus gegenüberzutreten, wurde eine militaristisch-nationalistisch gefärbte Ideologie, die die Schweiz als Sonderfall darstellte.

Dadurch war für die Schweiz die wahre Zäsur nicht das Kriegsende (auch wenn dies ebenso gefeiert und der Kriegsgewinner Churchill bei seinem Besuch in Zürich 1946 frenetisch bejubelt wurde), sondern der Kriegsbeginn. So wurde das 50-jährige Jubiläum des Kriegsbeginns 1989 mit Feiern, Ausstellungen sowie Werbung zum «Wehrwillen» der Schweiz begangen, das Jubiläum des Kriegsendes sechs Jahre später hingegen nur im eher begrenzten Rahmen der schweizerischen Bundesversammlung gefeiert.  Dass 1989 derart grosszügig an den Kriegsbeginn erinnert wurde, kam nicht zuletzt der Armeeführung gelegen – stand doch im November jenes Jahres die Abstimmung über die Abschaffung der Wehrpflicht an. Die seither anhaltende, dem Militärdienst wohlwollend gesinnte Haltung der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung kann also auch mit ein Grund sein, weshalb in der Schweiz statt der aktiven Erinnerung an vergangene Kriege eine aktive Militärpolitik im Zentrum steht.

Ein Denkmal für die gefallenen Schweizer Soldat*innen der Weltkriege – Vevey, Kirche St. Martin. Bild: Manuel Kissoczy

Ein Besuch in Vevey

Gewiss, das Fehlen einer Gedenkfeier in der Schweiz fiel mir wahrscheinlich nur auf, weil ich mit ein wenig Heimweh im Gepäck nach greifbaren Verbindungen nach Kanada suchte. Da kam es mir gelegen, dass ich zufällig auf die einzige Remembrance Day-Zeremonie der Schweiz stiess, die in Vevey am Genfersee seit Jahren gemeinsam von den britischen und kanadischen Botschaften organisiert wird.

Als Exilkanadier war ich also sehr gespannt, wie die Feier in der Schweiz ausfallen würde. Frühmorgens reiste ich mit dem Zug nach Vevey, wo sich der Commonwealth-Friedhof befindet, eine Anomalie in einem neutralen Land, die der Internierung von ausländischen Soldat*innen im ersten Weltkrieg sowie abgestürzten Militärpilot*innen im zweiten Weltkrieg geschuldet ist. Die Commonwealth-Gräber sind dank einem Abkommen mit der Gemeinde Vevey vom Grabrecycling befreit und liegen in der Mitte des Friedhofs, der sachgerecht nach dem heiligen Martin benannt ist – dem Schutzpatron der Flüchtlinge und Soldat*innen, dessen Gedenktag ebenfalls am 11. November gefeiert wird.

Wie in Kanada beginnt die Zeremonie um 10:50 mit dem Einmarsch eines Dudelsackspielers und dem Klerus. Dem folgen Gebete aus allen grossen Weltreligionen, als Hommage an die grosse Zahl nichtchristlicher Soldat*innen, die in den Weltkriegen ihr Leben liessen. Durch ein ebenfalls vorgelesenes «Native African Prayer» werden auch der globale und koloniale Charakter der zwei Weltkriege beleuchtet – als postkoloniale Reflektion taugt es jedoch nicht. Es   pauschalisiert durch die nicht explizit genannte geographische Herkunft vielmehr auf altbekannte Weise einen ganzen Kontinent. Die anderen Gebete hingegen lassen sich durchaus bestimmten Religionen oder Regionen zuordnen.

Die britische Botschafterin Jane Owens bei ihrer Rede. Bild: Manuel Kissoczy

Persönliche Trauer und politische Ansprüche

Um Punkt elf Uhr läuten die Glocken der St. Martinskirche, und das kurze Gedicht «We Will Remember Them» wird vorgelesen. Darauf ertönt das militärische Hornsignal «The Last Post», gefolgt von zwei Schweigeminuten. Der Friedhof ist stockstill. Man fühlt die Ansammlung von individuellen Erinnerungen und das gemeinsame Andenken. Nur kurz wird die Stille vom Gekicher einiger Schulkinder der Britischen Schule unterbrochen. Dann beendet das Hornsignal «Reveille» die Schweigeminuten und die britische Botschafterin HE Jane Owen spricht für einige Minuten.

Es ist mein persönliches Highlight des Tages, da sie von sich als Person erzählt und so einen schönen Kontrast zum gewohnten Ablauf der Zeremonie bildet. Sie schliesst nämlich ihre Rede mit einer kurzen Anekdote eines ehemaligen Soldaten, der vor all diesen Jahren am D-Day als 18-Jähriger gekämpft hatte und sie kürzlich besucht hatte. Er habe ihr gesagt, er sei kein Held, er habe nur Glück gehabt und überlebt. Die wahren Helden lägen auf dem Strand in der Normandie. Dies verdeutliche, wie hoch das Opfer sei, das die Soldaten am D-Day erbracht hatten. «Nie, nie wieder soll es zu einem Konflikt mit so vielen Toten kommen», schliesst die Botschafterin – und verbindet damit, wie oft in der erinnerungskulturellen Forschung aufgezeigt, die Erinnerung an das Vergangene mit einer Aufforderung und Auftrag an die Zukunft.

Das Zenotaph, geschmückt mit Mohnblumenkränzen. Bild: Manuel Kissoczy

Eine anglikanische Hymne wird gesungen, und danach begleitet ein bekanntes Dudelsack-Klagelied die Kranzniederlegung. Alle anwesenden Würdenträger*innen legen Kränze mit offiziellen Wünschen nieder. Ein letztes Gebet wird von allen mitgesagt: «We pledge ourselves anew to be peacemakers in our homes and in our community, in our country and throughout the world» – auch hier wird der Wunsch nach Einheit, Frieden und Verhindern von erneuten Scharmützeln betont.

Obwohl der Gedenkgottesdienst christlich geprägt bleibt, empfand ich die Zeremonie rückblickend als ausgesprochen interkulturell. Die Gebete forderten alle mehr «Völkerverständigung» und Harmonie. Dies kann verschieden interpretiert werden. Als Nachfolgestaaten von Grossbritanniens Kolonien repräsentieren die Commonwealth-Staaten bereits eine breit gefächerte Ansammlung der meisten grossen Religionen und zahlreichen Kulturen. Dass Grossbritannien in diesem Staatenbund Anspruch auf eine Führungsrolle auf dem diplomatischen Parkett erhebt, wurde durch die Zeremonie deutlich.

Andererseits kann man das Andenken an vergangenes Leid und die Hoffnung auf Versöhnung nicht nur als Ausdruck britischer politischer Ansprüche interpretieren. Sie ist auch ein gutes Beispiel dafür, was Erinnerungskultur in den Augen von Regierungen heute leisten sollte:  Nicht einfach die eigene Geschichte soll erinnert werden. Es geht auch darum, die freundschaftlichen Beziehungen zu ehemaligen Kriegsgegnern zu fördern. Nicht nur im Inhalt der Gebete und Gedichte war dies zu spüren, sondern auch in Form der anwesenden geladenen Gäste, wie etwa dem deutschen Botschafter und einem Vertreter der deutschen Streitkräfte.

Auch die deutsche Botschaft in Bern hat einen Kranz geschickt. Bild: Manuel Kissoczy

Der anschliessende offene Apéro, bei dem die meisten Botschafter*innen ebenfalls anwesend sind, findet im Astra-Hotel nahe dem Bahnhof statt. Bei Getränken und Häppchen ist die Stimmung immer noch andächtig. Viele kennen sich aus der Expatgemeinde rund um den Genfersee. Ich fühle mich gut aufgehoben und wie zu Hause – war die gesamte Feier doch fast identisch mit der kanadischen Version. Mir wird bewusst, wie sehr dieses Ritual den Zusammenhalt einer Gruppe mit demselben Kulturkanon im Gepäck stärken kann.

Im Gespräch mit einigen Exilbrit*innen und -Australier*innen höre ich nämlich immer wieder die gleichen Gedanken: dass es einfach wichtig sei, das Gedenken an die Grausamkeiten der Weltkriege auch für die kommenden Generationen wachzuhalten. Lest we forget ist ein Mahnspruch – nie wieder soll die halbe Welt in einen grausamen Abnutzungskrieg geraten. Deshalb wird auch der Frieden so stark betont. Er sei nicht durch kriegerisches Treiben zu erhalten, so auch die Hauptaussage der ausgewählten Gebetstexte der Feier. Wie sich das beispielsweise mit dem Auftrag der Uno-Blauhelme verträgt, durch bewaffnete Missionen den Frieden zu fördern, wird mir allerdings auch hier nicht ganz klar.

Im Endeffekt ist die exakte Bedeutung des Gedenktages aber gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass Frieden nicht selbstverständlich ist. Und auch die Schweiz, die Waffen in alle Welt exportiert und aus den desaströsen Weltkriegen als nachhaltig gestärkte Nation hervortreten konnte, täte gut daran, sich an mehr zu erinnern. Denn das könnte uns nicht nur lehren, unsere Lage etwas mehr zu schätzen, sondern auch wichtige Diskussionen anregen.