Man kennt doch die Stadt, in der man lebt, die schönsten Winkel und auch die weniger schönen, die Menschen und die Atmosphäre, oder? Die neue Dauerausstellung «Einfach Zürich» im Landesmuseum zeigt die Stadt anhand von vier verschiedenen Stationen in Form von Grossinstallationen aus einem ganz neuen, hochmodernen Blickwinkel. Dieser ist nicht zuletzt dank des Einsatzes digitaler Mittel so interessant und faszinierend.
Das Erste, was den Besucherinnen und Besuchern entgegenspringt, ist eine menschengrosse 3D-Installation der Zürcher Künstlergruppe Mickry 3. Etwas unförmig und «halt so nach Kunst» sieht sie für mich im ersten Moment aus. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Gebilde jedoch als Zusammenstellung von Ereignissen und Merkmalen rund um und aus Zürich. Da hängt zum Beispiel der «Böögg» etwas schief, der Rheinfall und die offene Rennbahn in Oerlikon verstecken sich ebenfalls in der Installation. Kennerinnen und Kenner Zürichs können versuchen, jedes Merkmal zu finden. Ansonsten steht den Besucherinnen und Besuchern eine Legende zur Verfügung, die jedes Merkmal identifiziert und kurz erklärt.
Zwei Schritte dahinter schaut man auf ein grosses Blumenfeld, ein etwas anderes Blumenfeld: Es ist eine Installation aus Bildschirmen, die auf Pfählen stehen. So ist Zürich also: Eine grosse Blumenwiese mit vielen verschiedenen Blumen, wovon hier zwanzig abgebildet sind. Die Bildschirme zeigen alle ein jeweils anderes Standbild, während immer einer der Monitore den Film hinter dem Standbild abspielt. Die Blumen sind nicht willkürlich gewählt: Jede der zwanzig Blumen steht für eine Gemeinde im Kanton – wobei somit natürlich nicht alle, sondern nur 20 Gemeinden repräsentiert werden. In Rüschlikon schlafen scheinbar alle auf Parkbänken, in Dübendorf wird den ganzen Tag lang gesungen und Ustermer und Ustermerinnen kreiseln um Nashörner. Ein bisschen anmassend ist es schon, eine Stadt auf je ein Merkmal zu reduzieren, und dennoch bin ich gerne einige Minuten auf den Plastikhockern sitzen geblieben und habe mir die Kurzfilme nacheinander angesehen.
Geschichten hinter Glaswänden
Für alle Geschichtsfans dürfte die dritte Station das Highlight der Ausstellung sein. Sie ist bunt, mit Touchbildschirmen ausgestattet und zeigt unzählige Ausstellungsstücke, zu denen stetig neue hinzukommen. In einem leicht abgetrennten Raum steht eine etwa drei Meter hohe, vierseitige Vitrinenkonstruktion, die aus hundert verschiedenen Vitrinen besteht. Sechzig der Vitrinen sind bereits mit Gegenständen aus verschiedensten Epochen gefüllt. Die leeren Vitrinen warten noch auf einen Gegenstand, den sie beherbergen dürfen. Das Landesmuseum nennt die leeren Vitrinen «Einladungen», wobei sich jeder und jede am Befüllen beteiligen und Vorschläge für weitere Gegenstände einbringen darf. Vor jeder der Vitrinenwände steht ein grosser Touchscreen, der diese erneut abbildet. Anders als beim Original wird allerdings mit einem «Touch» auf die gewünschte Vitrine die Geschichte des Gegenstandes illustrativ erklärt.
Wussten Sie beispielsweise, dass Anfang des 20. Jahrhunderts Wachsmodelle zur Prävention von Syphilis bei weiblichen Prostituierten ins Leben gerufen wurde? Dabei wurden nackte Wachsbrüste von Frauen mit Syphilisnarben angefertigt. Eine davon ist in einer Vitrine sichtbar. Leider sind die Erklärungen teilweise sehr eng gefasst, der grössere Kontext wird nur wenig bis gar nicht erläutert, was ein gewisses Vorwissen voraussetzt. Zudem frage ich mich an der einen oder anderen Stelle, ob diese Ereignisse sich wirklich so zugetragen haben. Oft sind die Erklärungen etwas zugespitzt formuliert und mit leicht kitschigen Bildern illustriert. Gegenstände wie die erwähnten Wachsmodelle sind ungewöhnlich und bedürfen einer Erklärung, andere wiederum sind sofort erkennbar: Da leuchtet einem wieder der «Böögg» entgegen, eine Spritze deutet auf die Drogenpolitik und den Platzspitz in den 1980er-Jahren hin und eine Daumenschraube symbolisiert die Hexenverfolgungen im 18. Jahrhundert. Vor der Vitrine könnte man sicherlich stundenlang verweilen und die Stücke darin betrachten, doch die vierte Station beherbergt eine mindestens genauso sehenswerte Installation.
Schichten und Punktwolken
Waren Sie schon einmal betrunken und haben alles doppelt gesehen? Ein wenig so fühlt man sich, sobald man den abgedunkelten Raum der 3D-Installation betritt. Leicht verschwommen und seltsam sind die Aufnahmen, die einen durch den Lindenhof, den Hauptbahnhof, den Zürichsee und das Tösstal führen so als ob jemand eine Röntgenaufnahme machen würde. Jede Schicht, ob sichtbar oder unsichtbar, wird dabei detailliert gezeigt und dann bei der Animation übereinandergelegt. Die Technologie dahinter nennt sich «Punktwolkentechnologie», wobei die Grafiken durch ebenjene Punktwolken generiert werden. Verwirrend wie faszinierend. Das Beste an diesem Raum ist, dass er wirklich einen noch nie gesehenen Einblick in die abgebildeten Orte gibt. Wie oft man den Film auch anschaut, man findet immer wieder neue Aspekte, die einem vorher noch nicht aufgefallen sind.
In der Ausstellung «Einfach Zürich» findet der Einsatz moderner Medien in Verbindung mit historischen Gegenständen eine gute Balance. So ist sie für alle Alters- und Interessensgruppen einen Besuch wert. Faszinierend, unglaublich vielseitig und manchmal auch ein bisschen beklemmend, aber sicher gar nicht so «einfach» ist sie, unsere Stadt. «Weisst du, manchmal vergesse ich, dass ich in Zürich wohne und die Vielfältigkeit wird mir erst in solchen Momenten wieder bewusst», meint meine Freundin zu mir, als wir den Ausgang erreichen, aus der Tür des Landesmuseums treten und auf die Limmat und den Hauptbahnhof blicken.
Die Website der Ausstellung: http://einfachzuerich.ch/
Der Eintritt ist frei, Tickets müssen dennoch an der Kasse bezogen werden.