Wissenschaft ohne Fussnoten

Das Ende der «Aktion Reinhardt» jährt sich diesem November zum 80. Mal. Studierende der HU Berlin haben den von Fast Forward Science prämierten Podcast «Holocaust in Polen. Die «Aktion Reinhardt». Täter, (Über)Leben, Erinnerung» anlässlich einer Exkursion nach Lublin produziert. Ein Gespräch über einen lange nicht beachteten Aspekt des Holocaust, Erinnerungskultur und kreativere Formen von wissenschaftlichen Leistungsnachweisen.

etü (Eva Ammann): Ihr habt vor etwa einem Jahr euren Podcast «Holocaust in Polen. Aktion Reinhardt. Täter, (Über)Leben, Erinnerung» fertiggestellt. Ihr hebt hierbei einen Aspekt des Holocausts hervor, der in der Geschichtsforschung lange Zeit kaum beachtet wurde. Warum jetzt?

Alina Müller: Das hängt mit einer Exkursion zusammen, an der wir 2021 gemeinsam teilnahmen. Da auch wir Exkursionsteilnehmer:innen uns zuvor nicht wirklich mit der «Aktion Reinhardt» auskannten, wollten wir die Geschichte dieser Verbrechen auch für andere bekannter machen.

Giulia Ross: Insgesamt ist es aber so, dass in den letzten Jahren vermehrt die Verbrechen «im Schatten von Auschwitz» durch die Forschungs- und Bildungstätigkeit verschiedener Wissenschaftler:innen erforscht und in der Öffentlichkeit thematisiert wurden.

Das Ende der «Aktion Reinhardt» jährt sich diesen November zum 80. Mal. Wie kam es zu diesem Ende? Was ist im Herbst 1943 passiert?

GR: Im Herbst 1943 wurden die Vernichtungslager Treblinka und Sobibor, wo seit ihrem Bau 1942 etwa eine Millionen Menschen ermordet wurden, abgebaut und somit dem Massenmord unter dem Tarnnahmen «Aktion Reinhardt» ein Ende gesetzt. In Treblinka wurden bereits im Sommer 1943 die letzten Menschen vergast und das Lager nach einem Aufstandsversuch abgebaut. In Sobibor ging der Mordbetrieb noch bis Oktober weiter. Ein Massenaufstand am 14. Oktober 1943 brachte das Lager zu einem Ende. Es war eine der größten Revolten jüdischer Menschen während des Holocaust. Mehr als 300 Menschen gelang die Flucht. Nach dem Aufstand entschied Heinrich Himmler, mit Sobibor auch das letzte Lager der «Aktion Reinhardt» aufzulösen. Schließlich wurde Anfang November 1943 fast die gesamte restliche jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements, die zuvor noch durch Zwangsarbeit ausgebeutet worden war, bei der «Aktion Erntefest» unter anderem im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek ermordet – an wenigen Tagen starben bei Massenerschiessungen mehr als 40.000 Menschen.

Markierte der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor also gewissermassen das Ende der «Aktion Reinhardt»?

GR: Es ist schwer zu sagen, ob allein der Aufstand das Ende der «Aktion Reinhardt» einläutete. Schon seit dem Frühjahr 1943 wurde zum Beispiel in Belzec, dem ersten Vernichtungslager der «Aktion Reinhardt», das Morden beendet, um mit der Spurenbeseitigung der dort durchgeführten Verbrechen anzufangen. Eigentlich war es der NS-Führung klar, dass sich die «Aktion Reinhardt» einem Ende näherte. Der Grossteil der polnischen Jüd:innen war zum Zeitpunkt des Aufstandes in Sobibor ermordet worden und zugleich war die Wehrmacht an der Ostfront schon in der Defensive. Trotzdem hatten die Widerstandsaktionen, die Jüd:innen 1943 an verschiedenen Orten durchführten, ein großes Gewicht. Denn sowohl die Aufstände in den Ghettos von Warschau und Bialystok als auch die in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor zeigten den Deutschen, dass sie nicht so unverletzlich waren, wie sie es sich vormachten. Diese «Gefahr» der Aufstände sollte also so schnell wie möglich beseitigt und die Lager aufgelöst werden.

Rechts ist der Bahnhof in Sobibór, an den tausende jüdische Menschen transportiert wurden, sichtbar. Auf der gegenüberliegenden Seite – auf Höhe des grünen Hauses und dahinter – befand sich das Vernichtungslager. Bild: privat

Ihr seid im Rahmen einer Exkursion des Instituts für Geschichtswissenschaften (IfG) der Humboldt-Universität zu Berlin nach Lublin in Polen gereist. Von dort aus habt ihr verschiedene Erinnerungsorte der «Aktion Reinhardt» besucht. Wie waren und sind die Orte um Lublin miteinander verbunden?

Jonas Schmidt: Auf den ersten Blick haben Orte wie Piaski, Izbica, Bełżec, Sobibór und Majdanek heute wenig gemein. Sie scheinen unverbundene Punkte auf einer Landkarte zu sein. Wenn wir uns aber die historischen Begebenheiten und die Zeit der deutschen Besatzung zwischen 1939 und 1945 vergegenwärtigen, in der das sogenannte Generalgouvernement bestand, dann ergibt sich das Bild einer durch Terror und Gewalt, Mord, Ausbeutung sowie einer Infrastruktur der Ghettoisierung und Vernichtung zusammengehaltenen Region im heutigen Südosten Polens. Bevor Piaski und Izbica zu sogenannten Transitghettos und die deutschen Vernichtungslager Belzec und Sobibor errichtet wurden, bevor das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek zu existieren begann, hatten die Ortschaften vor allem eines gemein: Sie waren in der Moderne von jüdischem Leben geprägt gewesen.

Woran wird an diesen Orten heute noch erinnert?

GR: Ich würde sagen, dass an manchen Orten an die Verbrechen erinnert wird und an manchen eigentlich kaum. Wo früher die Vernichtungslager Belzec, Sobibor, Treblinka und Majdanek waren, stehen nun Gedenkstätten unterschiedlicher Art, mit unterschiedlichen Geschichten. Es gibt aber sehr viele kleine, unbekannte Orte wie die Transitghettos, wo gelegentlich versucht wird, an die Verbrechen zu erinnern – etwa in Form von kleinen Gedenktafeln.

Im Podcast sprecht ihr darüber, was diese verschiedenen Orte in euch auslösten und inwiefern ihr euch der Schwierigkeit gegenübergestellt habt, euch «selbst ein Urteil zu erlauben». Was passierte mit euch an diesen Orten? Wie war es, nicht nur Texte im Seminarraum über etwas zu lesen, sondern vor Ort zu sein?

AM: Ich habe nun Eindrücke von dem Ort und lese jetzt Texte mit Namen oder Orten anders als davor. Die Auseinandersetzung nach der Exkursion, vor allem im Rahmen des Podcasts, zeigte mir, dass es einen Unterscheid machte, dort gewesen zu sein.

GR: Auf einer Wissens- und emotionalen Ebene fanden bestimmte Prozesse statt. Ich fand es sehr eindrücklich, in der Gedenkstätte in Bełżec zu stehen, die ungefähr so gross wie zwei Fussballfelder ist und die Grösse des ehemaligen Vernichtungslagers abbildet. Man sieht diesen Ort vor sich und weiss, wie viele Menschen da ermordet worden sind. In dem Moment konnte ich besser verstehen, was das Wort «Vernichtungslager» bedeutet. Das gilt auch für den Besuch in der Gedenkstätte in Sobibór, wo das Vernichtungslager mitten im Wald lag, zusammen mit dieser Atmosphäre dort.

Wie wichtig ist es, an solchen Orten zu erinnern?

GR: Für mich ist einer der Hauptpunkte bei der Erinnerung des Holocaust, dass man an die Toten nicht individuell erinnern kann und wir ganz viele Geschichten und Biographien nicht kennen. Dazu kommt die materielle Tatsache, dass diese Leute ermordet und ihre Überreste in irgendeiner Form dort in der Erde liegen. Allein deshalb ist wichtig, aus einem rituellen Gedanken heraus, an den Orten zu erinnern.

Wie viel Potential steckt in Erinnerungsorten?

AM: Wie viel Potential in den Orten steckt, ist abhängig davon, was man vor Ort über die Verbrechen erfährt. Wenn man in Izbica steht, im ehemaligen Transitghetto, und man nicht weiss, was da passiert ist, dann erfährt man auch nichts und kann an nichts erinnern.

GR: Ja, weil der Ort nicht spricht.

JS: Der Besuch kann ein Anstoss sein. Erinnerungsorte sind zentral, weil wir nur so verstehen, was dort passiert ist. Besonders deutlich wird das, wenn man sich die archäologischen Funde in der Gedenkstätte in Sobibór anguckt. Das Lager Sobibor machten die Nazis beim Rückzug aus dem Osten dem Erdboden gleich. Die wenigen Überreste können genauso von Bedeutung sein wie ein zusammenhängender Lagerkomplex in Majdanek, um zu belegen, dass die Verbrechen geschehen sind.

Archäologische Funde in der Gedenkstätte von Sobibor, die heute besucht werden kann. Bild: privat

Wie denkt ihr an diese Reise, nun mehr als zwei Jahren her, zurück?

GR: Die Reise veränderte viel und setzte manches in Bewegung.

JS: Wir wären alle schon längst fertig mit dem Studium, wenn wir den Podcast nicht produziert hätten. (Gelächter) Für mich erlaubte es die Reise auch, mir ein eigenes Urteil über erinnerungspolitische Tendenzen der Geschichte und Gegenwart zu bilden. Man sieht, wie umstritten das Gedenken an die Verbrechen vor Ort zu Zeiten des Sozialismus und in der Folge war und ist. Vor dem Hintergrund der Geschichtsrelativierungen, insbesondere durch die Regierungen einiger östlicher EU-Staaten, die sich bereits einige Zeit vor dem Ukraine-Krieg zuspitzten und sich danach intensivierten, kann es hilfreich sein, vor Ort gewesen zu sein, um nicht zu vergessen, wer gegen wen kämpfte, wer kollaborierte, wer wen befreite.

Wie seid ihr auf diese Art des Leistungsnachweises gekommen?

GR: Die ursprüngliche Idee war, von dieser Exkursion etwas zurückzubringen. Aus unseren Erfahrungen sollte etwas entstehen, was die Exkursion für andere Leute greifbar macht und unser Wissen und unsere Auseinandersetzung möglichst multipliziert. Daraus entstand erst die Idee einer Ausstellung, aber ein Podcast schien interessanter.

Wie ist dieser Podcast eigentlich entstanden?

GR: Das Projekt war durchgängig ein kollektives Projekt. Das finde ich sehr wichtig zu sagen.

AM: Wir starteten das Projekt mit einem geliehenen Aufnahmegerät und nahmen während der Exkursion jeden Tag sehr viel auf. Während der Reise überlegten wir uns ein Konzept und interviewten die anderen Exkursionsteilnehmer:innen.

Immer mit dabei während der Exkursion: das Aufnahmegerät. Giulia Ross und Jonas Schmidt interviewen im Reisebus Kommiliton:innen zu ihren Eindrücken. Bild: privat

GR: Wieder zu Hause angekommen, machten wir uns daran, das ganze Material zu sichten und wichtige Teile zu transkribieren. Danach lasen wir uns weiter in die Literatur ein und jede:r von uns setzte sich mit einem spezifischen Thema vertieft auseinander. Aus Material und Lektüre entstand für jede Folge ein Skript.

JS: Wir produzierten schnell Text, weil nur das Skript tatsächlich der Leistungsnachweis war.

GR: Wir lasen die Texte voneinander und versuchten, sie besser zu machen. Zudem hatten wir dank persönlicher Verbindungen von Alina eine wunderbare Sprecherin, die für mehrere Tage nach Strausberg in unser Aufnahmestudio gekommen ist. Der Musiker ist auch ein Freund von Alina, ebenso die Gestalterin des Covers. Eigentlich ist Alina die personal relations-Abteilung. Insgesamt erfuhren wir einfach sehr viel tolle (und unbezahlte) Unterstützung, ohne die der Podcast sich nicht so anhören würde.

AM: Die Aufnahmen und vor allem das Schneiden dauerte dann ewig, weil das neu für uns war. Was das Projekt über die ganzen eineinhalb Jahre trug, vom Beginn bis zur Veröffentlichung der letzten Folge, war die gute Zusammenarbeit.

An der geschichtswissenschaftlichen Fakultät – an der HU wie an der UZH – dominiert die schriftliche wissenschaftliche Arbeit als Leistungsnachweis. Wie war es für euch, in einem anderen, kreativeren Format zu arbeiten?

GR: Es war die einzige gelungene Gruppenarbeit. Wir merkten, dass wissenschaftliche Arbeit verbunden mit Kreativität zu sehr guten Sachen führen kann, die wissenschaftlich bleiben. Das heisst, man sollte dies nicht so sehr im Kontrast sehen, sondern mehr solcher Formate begünstigen.

JS: Vor allem, weil dem Podcast auch das geschriebene Wort zugrunde liegt. Das ist ja gar nicht so weit auseinander. Wir versuchten nur, anders zu schreiben. Wir dachten beim Schreiben an eine dritte Person, die, ohne mitgefahren zu sein, ohne Vorkenntnisse zur «Aktion Reinhardt», verstehen sollte, was geschehen ist.

AM: Wir überlegten auch, was das Format «Podcast» bietet und was man tun kann, um eben nicht einfach nur einen Text vorzulesen. Wir wollten durch das Experimentieren mit verschiedenen Stimmen, Musik und Aufnahmen vor Ort erreichen, dass man 40 Minuten zuhört und etwas mitnimmt.

Ihr habt im Mai für den Podcast den «Fast Forward Science»-Preis für Wissenschaftskommunikation gewonnen. Wir als Studierende haben kaum die Chance, mit unseren Seminararbeiten an die Öffentlichkeit zu treten und auch später wird es wohl eher selten vorkommen, dass wir aus unserem stillen Kämmerchen ausbrechen. Wie war es für euch, dies schon während des Studiums einmal zu erleben?

AM: Der Preis führte auf jeden Fall dazu, dass wir nochmal mehr über den Podcast redeten mit Freund:innen, Verwandten, Interessierten…

GR: Das war das einzige Mal, dass Freund:innen und Verwandte mitbekamen, was ich in meinem Studium mache. Für mich persönlich war das schöner als diese Öffentlichkeit, denn ich weiß nicht, wer sich das anhört.

Wie denkt ihr über das Format «Geschichtspodcast»?

AM: Wir streiten uns regelmässig über Geschichtspodcasts.

GR: Also ich höre keine Geschichtspodcasts.

JS: Das ist legitim, vor allem bei dem Angebot.

AM: Wir merkten, dass wir persönlich es gar nicht leicht finden, einen guten Geschichtspodcast zu finden. Wir stellten fest, was wir bei Geschichtspodcast anstrengend bzw. nicht ansprechend finden. Vor allem die vielen sogenannten «Laberpodcasts», die bei A anfangen und bei Z aufhören, aber nichts kontextualisieren. Sowas nervt.

Würdet ihr diese Art des Leistungsnachweises, der nicht an Formalitäten wie Fussnoten gebunden ist, an der Universität fördern?

AM: Es war eine wirklich tolle Erfahrung, aber ich könnte mir nicht vorstellen, in jedem dritten Seminar einen Podcast zu machen. Das ist wahnsinnig viel Aufwand. Wenn Dozierende Aufgaben stellen wie «Mache einen Podcast!» und sich dem Arbeitsaufwand nicht klar sind und Produktionsbedingungen fehlen, dann bedeutet das vor allem eines: Überlastung.

GR: Auf jeden Fall. Wissenschaftliche Kriterien sind ja nicht nur Fussnoten und schriftliches Arbeiten. Wissenschaftliches Arbeiten ist gerade dann interessant, wenn es an so etwas nicht gebunden ist. Die Frage ist nur, ob man es dann auch schafft, wissenschaftlich zu bleiben.

Infos zu den Macher:innen: Jonas Schmidt, Doktorand am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen; Giulia Ross, studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der HU Berlin; Alina Müller, studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte an der HU Berlin.

Anmerkung: Die unterschiedlichen Schreibweisen von Sobibor/Sobibór und Belzec/ Bełżec sind darauf zurückzuführen, dass erstere Bezeichnung die deutsche Schreibweise während der Besatzung während des Zweiten Weltkrieges war, während letztere die Orte im Polen der Gegenwart meint, an denen heute die Gedenkstätten stehen.

«Holocaust in Polen. Die «Aktion Reinhardt». Täter, (Über)Leben, Erinnerung» von hoerspuren gibt es auf allen gängigen Streamingplattformen zu hören.