Wenn in der Uni KGB-Agenten patrouillieren

Einer von vielen, die sich zum Protest gegen das belarusische Regime auf die Strasse wagten. (Bild: Getty Images)

Am 9. August 2020 fanden die letzten Präsidentschaftswahlen in Belarus statt. Präsident Aljaksandr Lukaschenka sicherte sich wieder einmal die Mehrheit der Stimmen. Die darauf folgenden Proteste mobilisierten tausende Menschen. Wie ein Student diese Zeit miterlebt hat und was die Proteste für ihn bedeuten, haben wir in einem Gespräch herausgefunden.

Belarus ist seit einem Jahr konstant in den Medien. Die Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr, die Proteste, die Flugzeugentführung und jetzt die versuchte Zwangsrückführung einer Olympiaathletin. Und dennoch hat sich nichts geändert an der Situation im Land. Über 600 politische Gefangene sitzen in Untersuchungshaft und warten auf einen Prozess und ein Urteil. Freilassungen gibt es selten. Die Strafen betragen durchschnittlich ein paar Haftjahre oder hohe Geldbussen. Solche Proteste sind aber keine Neuheit in Belarus. Schon 2006 und 2010 gab es nach den Wahlen Kundgebungen und Unruhen in Minsk mit über 10’000 Personen. Das Ausmass der letztjährigen Proteste ist jedoch neu.

«Am 9. August 2020 ging ich nicht an die Proteste, ich blieb zu Hause. Die Menschen, die auf die Strassen gingen, sind Helden. Sie haben die Proteste ins Rollen gebracht.» Maksim (22) war zu dieser Zeit noch Student an der Wirtschaftsuniversität (BSEU) in Minsk. 2016 begann er mit dem Bachelorstudiengang Intercultural and Economic Communication. In seinem Studium geht es viel um Übersetzung. Die Studierenden lernen über verschiedene ökonomische Phänomene zu sprechen und diese in anderen Sprachen wiederzugeben, von Englisch auf Russisch und umgekehrt. Russisch ist Maksims Muttersprache. Wie so viele im Land spricht er auch Belarusisch, sie ist aber nicht die Alltagssprache. Man verstehe sie, aber spreche sie nur selten.

«Wir sangen Lieder. Doch der Staat stellte es als Aufstand dar.»

Erst 1918 wurde die erste belarusische Grammatik herausgegeben. Damit war eine einheitliche Schriftsprache geschaffen. Während der 1920er Jahre wurden vier Staatssprachen gepflegt, neben Belarusisch und Russisch auch Jiddisch und Polnisch. Doch nach und nach wurde Belarusisch ans Russische assimiliert. 1989 verwendeten nur noch gut 10% der Bevölkerung Belarusisch im Alltag. In der Sowjetrepublik galt Belarusisch als minderwertiger Dialekt des Russischen. Es war eine bewusste politische Entscheidung, die Sprache als solches darzustellen. Schleichend wurde Russisch zum Ausdruck der Modernisierung im Land.

Studierende wehren sich

Die Proteste nach den Wahlen 2020 nehmen nicht ab. Das Land befindet sich in Bewegung. Auch Maksim wird aktiv. Er ist in seinem fünften Studienjahr, als er sich im Streikkomitee seiner Fakultät zu engagieren beginnt. Die Studierenden stellen sich gegen das Regime, sie kommunizieren mit den Streikkomitees anderer Fakultäten, versuchen sich mit Gewerkschaften in Verbindung zu setzen und mit der Universität in einen Dialog zu treten. «Es waren immer friedliche Streiks. Wir sangen Lieder. Doch der Staat stellte es als Aufstand dar.» Die Studierenden glauben sich stark genug. Doch bald nach dem Protest erhält Maksim ein offizielles Schreiben, welches erklärt, dass er bestraft werden wird. Er muss sich beim Rektor melden.

In Belarus sind die Universitäten nicht unabhängig: Der Rektor wird vom Präsidenten selbst ernannt. Dennoch war die Situation vor dem vergangenen 9. August noch nicht ganz so prekär. Man konnte an vielen Veranstaltungen relativ offen sprechen. Die Uni kontrollierte ab und zu die Social-Media-Kanäle der Studierenden. Wenn ein Inhalt zu politisch war, konnte es gut sein, dass jemand zum Rektor zitiert wurde. So konnte es auch passieren, dass ein Thema für eine Abschlussarbeit geändert werden musste, weil es als zu heikel erachtet wurde. Seit dem letzten August gibt es aber zudem Kameras in der Uni. Kameras, die mit Audioaufnahmegeräten ausgestattet sind. Dazu kommen zwei KGB-Agenten, die in der Universität patrouillieren und nach dem Rechten sehen.

15 Tage im Gefängnis, 36 Stunden Einzelhaft – wieso, weiss Maksim nicht.

Und was geschieht mit Maksim? Über Telegram-Kanäle haben die Studierenden kommuniziert und informiert. Er löscht alle Chats, versteckt seinen Laptop, damit man ihm nichts nachweisen kann. Er muss sich auf dem Polizeiposten melden, wo er verhört wird. Zwei Beamte des Amtes für Finanzkontrolle begleiten ihn zum Studierendenheim, man durchsucht sein Schlafzimmer nach seinem Computer. Sie nehmen ihn mit in ihre Zentrale. Dort wird er von KGB-Agenten befragt und psychisch unter Druck gesetzt. Er muss ihnen gar nichts sagen, das KGB weiss bereits alles. Haben sie ihn abgehört? Oder hat jemand im Telegram-Chat Informationen verraten? Maksim weiss es bis heute nicht. Er wird inhaftiert. 15 Tage verbringt er im Gefängnis, 36 Stunden davon in Einzelhaft – wieso, weiss er nicht. «Die Bedingungen waren schwierig. Das Licht war für 24 Stunden an. Es war uns nicht erlaubt während des Tags auf dem Bett zu liegen, wir durften nur am Tisch sitzen oder umhergehen.» Aber das Essen sei gut gewesen. Er habe mehr gegessen als in Freiheit. Und dann war da noch Covid-19. Auch in seiner Zelle gab es Fälle. Man habe ihnen keine Medikamente gegeben, sondern sie leiden lassen. Die Gefängniswärter kamen nicht häufig, sie selbst hatten Angst vor einer Infektion. Doch das hielt die Wächter wohl auch davon ab, die Inhaftierten zu verprügeln.

«Belarussisch» oder «Belarusisch»?
Der Ländername Belarus wird immer häufiger an Stelle von «Weissrussland» verwendet. Der Name setzt sich aus den Wörtern bela- (slawisch für „weiss“) und rus (das mittelalterliche Herrschaftsgebiet der Ostslawen) zusammen. Seit 1991 ist die Republik Belarus unabhängig und Mitglied in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Mit der Bezeichnung Belarus soll die Unabhängigkeit des Staates von Russland betont werden. Noch hält der Duden an der offiziellen Schreibweise «belarussisch» oder auch «belorussisch» fest. Immer öfter taucht in den Medien jedoch die Schreibweise «belarusisch» auf. Mit dem langen «u» soll auch phonetisch vom kurzen «u» des Russischen Abstand genommen werden.

Öffentlichkeit schaffen

Nina (22), eine Kommilitonin der Autorin (22), hat dieses Gespräch in die Wege geleitet. Sie bezeichnet sich selbst als Menschenrechtsaktivistin. Seit Juni 2021 amtiert sie als Vizepräsidentin beim Verein Libereco Schweiz. Die NGO engagiert sich seit 2009 spezifisch für Belarus und die Ukraine. Die Organisation wurde von befreundeten Uniabsolvent*innen gegründet und kämpft seither für die Menschenrechte und um die öffentliche Aufmerksamkeit für die Situation in Belarus. Seit 2020 engagiert sich Nina bei Libereco. Ihr Besuch in Belarus im Jahr 2017 mit dem European Youth Parliament hat sie sensibilisiert für Belarus und die politischen Geschehnisse im Land. Libereco will unter anderem mit politischen Patenschaften die Inhaftierten unterstützen. Doch sie kommen nicht nach. Haben sie Politiker*innen für drei bis vier Inhaftierte gefunden, sind schon wieder zehn weitere Menschen inhaftiert worden. Jetzt geht es mehr denn je darum, Öffentlichkeit zu schaffen. Die Repressionen nehmen nicht ab. Dies bestätigt auch Maksim. «Ich glaube nicht mehr an aktive Proteste.» Die Menschen auf den Strassen haben alles getan was sie konnten, sagt er. Die Situation hat sich nicht verbessert. Bei unserem Gespräch zu dritt fragt Nina Maksim, ob sie mit ihrem weiss-rot-weissen Armband eine Uni in Belarus betreten könnte. Heute könnte sie das nicht mehr. «Das würde dich ins Gefängnis bringen.»

Die Flagge, die Menschen ins Gefängnis bringt. (Bild: Wikimedia Commons)
Seit 1995 die offizielle belarusische Flagge. (Bild: Wikimedia Commons)

Die weiss-rot-weisse Flagge steht für die Unabhängigkeitsbewegung. Sie stammt von der Zeit zwischen 1917–1919. Für kurze Zeit gab es damals die unabhängige Belarusische Volksrepublik (BNR). Die sowjetische Historiographie ignoriert diese Zeit komplett. Maksim spricht von einer zweigespaltenen Geschichte seines Landes. Es gebe die Geschichte vor der Oktoberrevolution 1917 und eine Geschichte danach. Letztere ist sehr subjektiv, wie auch die offizielle Geschichte seines Landes. Dabei habe der Staat nichts, worauf er stolz sein könne. 1995 wurden unter Lukaschenka bei einem Referendum Russisch als zweite Staatssprache und die rot-grüne Flagge eingeführt. Diese Flagge erinnert stark an Sowjetsymbolik. Die weiss-rot-weisse Flagge hingegen bringt heute Menschen ins Gefängnis. Der Staat sagt, diese Fahne werde von Faschisten und schlechten Menschen getragen, die bestraft gehören.

Maksim ging immer wählen, auch wenn er wusste, dass die Wahlen manipuliert würden.

Seit 1994 ist Lukaschenka an der Macht. Erst in jenem Jahr wird die ehemalige Sowjetrepublik mit einer Verfassungsänderung zum Präsidialsystem. Zügig verändert der Präsident die politische Landschaft von Belarus und etabliert eine postsowjetische Autokratie. Mit einem umstrittenen Verfassungsreferendum im Jahr 1996 verlängert Lukaschenka seine Amtszeit mindestens bis 2001 und verschafft sich erhebliche Macht in der Legislative. Er gibt sich beispielsweise das Recht, das Parlament aufzulösen. Seither gewinnt Lukaschenka jedes Mal die Wahlen mit einer erheblichen Mehrheit, fast immer mit über 80% der Stimmen.

Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) kritisiert den Autokraten schon lange. Auch das Verfassungsreferendum von 1996 wird als Verfassungsputsch bewertet. 2010 lässt Lukaschenka dann das Büro der OSZE in Minsk schliessen. Auch die Medien stehen unter enger Staatskontrolle. «Die offiziellen Newsportale sind schrecklich. Sie zeigen öffentliche Einschüchterungen. Ich schaue schon lange keine Staatsnachrichten mehr.» Diese strotzen vor Propaganda. Und für die unabhängigen Medienberichtenden wird es immer schwieriger. Journalist*innen werden grundlos inhaftiert. Maksim ging immer wählen, auch wenn er wusste, dass die Wahlen manipuliert würden. «Es ist mein Recht, wählen zu gehen!»

Und jetzt?

Nach seiner Freilassung geht Maksim in sein Elternhaus. Auch da taucht die Polizei wieder auf, sie durchsuchen ihn als Verdächtigen ein weiteres Mal, finden aber nichts. Einen offiziellen Strafprozess gab es nie. Er geht zurück an die Uni. Doch da wirft man ihn raus. Er habe an den Protesten teilgenommen und sei zwei Wochen nicht an die Veranstaltungen gekommen (zur Erinnerung: Maksim verbrachte diese zwei Wochen im Gefängnis). Am selben Tag packt er eine Tasche und beschliesst, mit seiner Freundin zu fliehen. Sie fahren mit dem Bus über die Grenze in die Ukraine. An der Grenze werden sie von der belarusischen Grenzpolizei angehalten und für einige Stunden zurückgehalten: Man hat suspekte Flyer in Maksims Tasche gefunden. Sie haben Angst, vom KGB inhaftiert zu werden. Doch glücklicherweise lässt man sie gehen.

Die jetzige Oppositionsführerin Sviatlana Tsikhanouskaya übernahm 2020 die Präsidentschaftskandidatur von ihrem Mann, als dieser verhaftet
wurde. (Bild: Twitter)

Maksim hat sich für unser Gespräch aus Georgien zugeschaltet. Zurück nach Belarus kann er nicht. Es gibt einen Strafprozess gegen ihn: Er war nicht im Militär, was ebenfalls ein Grund wäre, ihn festzunehmen. Er bleibt im Exil. Momentan wartet er auf eine Zusage für ein Stipendium in Deutschland. Wenn das nicht klappt, weiss er noch nicht, was er machen wird. Er erhofft sich, bald an einem Ort sein zu können, an dem er mit einer gewissen Stabilität leben kann, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass es an Essen, Geld oder anderem fehlt. Doch er ist überzeugt, dass sich das Regime selbst von innen her zerstört. Es gebe gar Gerüchte, dass der Präsident krank sei. Sonst, meint Maksim, könne nur Russland, nur Putin, helfen, das Regime von aussen zu schwächen. Er mag Russland nicht, aber es sei das einzige Land, das einen genug starken Einfluss auf Lukaschenka hat, um etwas verändern zu können. Als Student erhofft er sich die internationale Unterstützung für Studierende mit Stipendien und Studienplätzen an Unis. Bildung sei enorm wichtig.

Für Nina und mich als Studentinnen an der Universität Zürich sind solche Begebenheiten unvorstellbar. Die Uni ist unser Ort des kritischen Denkens und des offenen Diskurses. Kameras, die uns in der Uni überwachen? Undenkbar! Auch Nina sei nun als Vizepräsidentin von Libereco wohl nicht mehr willkommen in Belarus und Russland. Dennoch bedeutet das nicht, dass sie aufhören wird, sich für Belarus einzusetzen und auf Social Media zu informieren. Die Belarus*innen hätten alles ihnen Mögliche getan. Jetzt sei es wichtig, Aufmerksamkeit zu schaffen, sich zu informieren und internationalen Druck auf die belarusische Regierung auszuüben. Und auch mit den politischen Inhaftierten kann man Solidarität zeigen, indem man ihnen Briefkarten und Geburtstagsgrüsse schickt oder sich mit einer Spende beteiligt.

#StandWithBelarus

Links:

Libereco: https://www.lphr.org/ und ihr Telegramm Kanal: https://t.me/free_belarus_news

Viasna (Partnerorganisation von Libereco in Belarus): http://spring96.org/en

Studierendenverein Belarusian Students‘ Association: https://zbsunion.by/en

Ausgaben der Zeitschrift Osteuropa mit Fokus Belarus:  

https://www.zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2020/10-11/

https://www.zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2021/3/