Von Rache und Regisseuren

Der jüngste Film Roman Polanskis spaltet die Geister. Eine Reflexion über die Darstellung von Geschichte, Gleichheit vor dem Gesetz, und die Frage, ob man den Film eines Regisseurs, der wiederholt der Vergewaltigung beschuldigt wurde, überhaupt schauen sollte.

J’accuse, «Ich klage an», so lautet das neuste Werk von Roman Polanski.

Und na ja, was soll ich sagen? Der Name ist hier Programm.

Denn Polanski hat nicht nur Regie geführt, sondern auch beim Drehbuch mitgewirkt. Und wirft in seinem neusten Stück tatsächlich mit Anklagen nur so um sich: gegen selbstgerechte Eliten, das pöbelnde Volk, eine Justiz, die zum Politikum verkommt… und gegen seine eigenen Kritiker und Kritikerinnen.

Gerade der letzte Punkt ist ein sprichwörtlicher Elefant im Raum: Bei Roman Polanski handelt es sich um kein unbeschriebenes Blatt. Der gefeierte französisch-polnische Regisseur ausgezeichneter Filme wie Tanz der Vampire (1967), Der Pianist (2002) oder Oliver Twist (2005), entzieht sich seit Jahrzehnten der amerikanischen Strafverfolgung und der Anklage der Vergewaltigung einer Minderjährigen.

Dieser Person Polanski konnte auch ich mich beim Schauen von J’accuse nicht vollkommen entziehen: Ich war begeistert und gleichzeitig schämte ich mich irgendwie für dieses Gefühl.

Was also mit Polanskis neustem Wurf anstellen?

Ein Antisemit als Held

Der Streifen handelt von den Ereignissen rund um die «Dreyfus-Affäre» im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zur Erinnerung: Der jüdische Offizier Alfred Dreyfus wurde des Hochverrats schuldig gesprochen und in einer Strafkolonie inhaftiert, weil er angeblich den Deutschen geheime Informationen zugetragen hatte. Schon bald wurden jedoch erhebliche Verfahrensmängel publik: Die militärische Ermittlungsbehörde hatte Beweise gefälscht.  Zwei Jahre nachdem man Dreyfus auf die Teufelsinsel verbannt hatte, konnte nachgewiesen werden, dass ein anderer – ein gewisser Ferdinand Walsin Esterhazy – den Verrat begangen hatte. Doch die Militäreliten waren unwillig, den Fehler einzugestehen. Der Justizirrtum wurde zu einem der grössten Skandale der Dritten Republik und spaltete das Land in Dreyfusards und Antidreyfusards.

Davon waren auch Intellektuelle nicht ausgenommen: Emile Zolas titelgebender und berühmt gewordener Ausruf «J’accuse…!» steht über einem offenen Brief, in dem der Schriftsteller die Behörden anklagt, welche den Vorfall lieber unter den Tisch kehren wollten.

Der Schriftsteller Émile Zola klagte in seinem offenen Brief 1898 die Behörden an.

Der Film setzt direkt nach der Verurteilung Dreyfus’ ein, hat jedoch nicht diesen als Protagonisten, sondern den neuen Leiter des militärischen Auslandsnachrichtendienstes, Marie-Georges Picquart. Anfangs von der Schuld des Verurteilten fest überzeugt, beginnt Picquart zunehmend zu zweifeln und ermittelt schliesslich auf eigene Faust. Dabei muss er gegen den Unwillen seiner Vorgesetzten und Untergebenen ankämpfen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Ein Hollywood-Held der alten Schule ist Picquart nicht: Er wird als Mensch mit Fehlern dargestellt, als Ehebrecher und als Antisemit. Es geht ihm nicht um Gerechtigkeit für Dreyfus, sondern darum, ein Grundprinzip des modernen Rechtsstaates zu wahren: den Anspruch auf eine faire Verteidigung. So muss es im Film auch kein Widerspruch sein, dass ein Antisemit einem Juden hilft. Der Hass auf jüdische Menschen erscheint im Film als weitverbreitete, ja normale Haltung. Im Vordergrund steht der Glaube an die Rechtsstaatlichkeit.

Zurückversetzt ins Fin de Siècle

Der Film fällt vor allem durch seine akribische Sorgfalt bei der Inszenierung auf: Ich zum Beispiel bin definitiv kein Militarist, doch die Hingabe zum Detail bei jeder Offiziersuniform (und davon gibt es in J’accuse viele) mit all den verschieden Graden und Abteilungen beeindruckte sogar mich. Auch sonst ist der Film ein Fest für die Augen: Unzählige Statistinnen und Statisten beleben die Filmkulissen und versetzen uns mühelos in das belebte Paris des Fin de Siècle.

Diese Liebe zum Detail tut der Spannung aber keinen Abbruch. Gerade bei den Szenen im Gerichtssaal, die die zweite Filmhälfte dominieren, vermittelt der Film meisterhaft ein Gefühl der zunehmenden Beklemmung und der Machtlosigkeit der Handelnden: Der Mob vor dem Gerichtsgebäude, offene Bevorzugung der Militärs im Prozess, klare Meineide. Man fühlt sich beim Zuschauen beinahe selbst ungerecht behandelt. Die Details runden diese Stimmung ab; beispielsweise das Gemälde des gekreuzigten Jesu im eigentlich säkularen Gerichtsaal, welches die Voreingenommenheit des Gerichts ausdrücken soll. 

Ab der ersten Minute der Gerichtsverhandlung steht fest: Diesen Institutionen ist nicht zu trauen.

Polanski zeigt mit dem Finger

J’accuse ist eine Anklage. Eine Anklage gegen den heutigen Zeitgeist, der heute wieder das Gleichheitsprinzip der modernen Demokratie wieder in Frage zu stellen wagt. Das sind bedenkliche, ja bedrohliche Entwicklungen. Der Film macht klar: Die Rechtsprechung sollte keine Sache der Politik, von der Stimmung in der Bevölkerung abhängig sein oder auf der Strasse stattfinden. Sie sollte auch nicht durch sich selbst überschätzende Eliten in die Hand genommen werden. Die Unabhängigkeit der Justiz, das Recht auf einen fairen Prozess für alle, dies sind Grundpfeiler einer Demokratie.

Es mag als traurige Ironie anmuten, dass sich Polanski selbst, der seit 1977 für die Betäubung und Vergewaltigung der damals 13-jährigen Samantha Geimer angeklagt ist, der Rechtsprechung entzieht und dadurch ebenjenen fairen Prozess verunmöglicht.

Polanski reagierte auf solche Vorwürfe mit der Aussage, dass der Film nichts mit dem Fall Geimer zu tun habe, sondern mit der Ermordung seiner Ehefrau Sharon Tate. Damals wurde er zu Beginn der Ermittlungen als Täter verdächtigt. Später stellte sich diesbezüglich seine Unschuld heraus.

Nichtsdestotrotz bleibt die Tatsache, dass Polanski im Geimer-Fall die Justiz umgangen hat. Und man muss sich fragen, ob Polanski ein glaubwürdiger Botschafter der Rechtstaatlichkeit ist. Das erneute Entfachen der Debatte rund um den Regisseur hat wohl auch dazu geführt, dass der Film ausserhalb Frankreichs – Polanskis Wahlheimat – kaum beachtet wurde und selbst dort von Protesten und Boykottaufrufen begleitet war. Hinzu kommt, dass J’accuse zumindest in der Deutschschweiz fast ausschliesslich auf Französisch gezeigt wurde.

Der Filmstart des jüngsten Polanski-Films sorgte insbesondere in Frankreich für Proteste und Aufruhr.

Soll man J’accuse nun trotzdem sehen? Auf einer rein filmischen Ebene ist der Film absolut empfehlenswert, wenn nicht sogar ein Must. Doch vollkommen trennen kann man Künstler und Film hier kaum. Nicht zuletzt wird Polanski mit jedem Kauf finanziell und ideell unterstützt. Gerade beim ökonomischen Aspekt mag es sich für manche anbieten, den Film (je nach Gesetzeslage illegalerweise) zu streamen und nichts zu bezahlen. Meiner Meinung nach kann das nur eine (durchaus berechtigte) moralische Befriedigung für Einzelne bleiben. Mit einem geschätzten Vermögen von 275 Millionen Dollar würde Polanski wohl selbst ein vollkommener Auftragsstopp nicht in ernsthafte Bedrängnis bringen. Schauen oder nicht schauen – das bleibt daher eine moralische Frage, die jede und jeder für sich selbst beantworten muss.

Aber niemand sollte als Zuschauer*in pauschal verurteilt werden, denn sind wir ehrlich: es ist und bleibt ein sehr guter Film; fesselnd, ästhetisch und mit klarer Botschaft. Es ist ein guter Film von einem mehr als fragwürdigen Regisseur. Dies sollte uns nicht daran hindern, den Film zu geniessen – ansonsten müssten auch die eingangs erwähnten Klassiker boykottiert werden. Es wäre allerdings falsch, Polanskis filmische Virtuosität als Verteidigung seiner Taten aufzuführen.

Denn J’accuse lehrt uns: Nicht die Religionszugehörigkeit, nicht die Begabung eines Menschen, nicht die Sympathie oder Antipathie entscheiden, ob dieser schuldig ist. Es sind die Fakten.

Im Moment ist J’accuse auf iTunes nur auf Französisch erhältlich; die deutsche Version folgt im Juli.