Von Brokern und Anthropologen – Was wir wissen und wissen wollen

Angekündigt war ein Vortrag zum Einfluss der britischen Börse auf die Entstehung der Anthropologie als wissenschaftlicher Disziplin. Prof. Dr. Marc Flandreau vom Graduate Institute in Genf sollte das Publikum im Rahmen der ZGW-Vorlesungsreihe «Wissen in Gesellschaft» in die Problematik einführen. Die Veranstaltung schien jedoch bisweilen in eine andere Richtung zu driften.

Als das UZH/ETH-Hybrid Zentrum «Geschichte des Wissens» (ZGW) letzten Mittwoch im Cabaret Voltaire zur Abendveranstaltung lud, blieb kein Stuhl im Publikum leer. Der rege Andrang lässt sich leicht durch den Titel des Vortrages erklären: «Was wissen die Börsen? Trader & Anthropologen im Zeitalter der Globalisierung». Wenige akademische Abendveranstaltungen geniessen ein solch konstantes Interesse wie jene, die in der Folge der Finanzkrise einen geisteswissenschaftlichen Blick auf die Themenbereiche Globalwirtschaft, Bankenwesen und Finanzmärkte versprechen. Ob die Aufmerksamkeit, die den Geisteswissenschaften dabei zugutekommt, von einer generellen Skepsis gegenüber Ökonominnen und eigentlichen Experten der Branche herrührt, oder vielleicht doch eher von der blossen Hoffnung, dass durch das Vokabular einer Historikerin oder eines Anthropologen ein verständlicherer Zugang zu dieser komplexen Thematik gefunden werden kann, sei dahingestellt.

So oder so, wer auf die anthropologische Analyse wirtschaftlicher Mechanismen hoffte, wie sie beispielsweise der Anthropologe David Graeber in seinem hervorragenden Buch Debt: The first 5000 years vornahm, wurde an diesem Abend enttäuscht. Zwar war mit Dr. Stefan Leins ein Anthropologe am Diskussionstisch, der genau eine Feldstudie solcher Art am Schweizer Bankenplatz betreibt, doch gehörte der Abend erst einmal Professor Dr. Marc Flandreau vom Graduate Institute in Genf.

In Flandreaus Monographie Anthropologists in the Stock Exchange: A Financial History of Victorian Science steht die Anthropologie selbst als Wissenschaftsdisziplin des späten 19. Jahrhunderts im Fokus. Diese ist, nach Flandreau, genauso von den Börsen der damaligen Zeit geprägt worden, wie sie jene auch umgekehrt beeinflusste. In einem Vergleich der Wirtschafts- und Forschungspraxis in den zwei Domänen bemühte er sich, aufzuzeigen, wie gewisse Vorstellungen von Werten und Wissen in der Anthropologie direkt dem «stock exchange market» des viktorianischen Grossbritanniens entstammten. Die aufgezeigten Parallelen reichen von der Selbstwahrnehmung der Anthropologen als «Broker» zwischen fremden Kulturen und der Wissenschaft, über ähnliche soziale Mechanismen zur Herstellung von Vertrauen und Kontrolle, bis hin zum gleichen Kräfteziehen zwischen Monopolisierungs- und Zerstreuungsbestrebungen.

Flandreaus Buch verspricht nach seinem Vortrag ein spannendes und wahrlich originelles Werk zu sein, dessen Erkenntnisse einer relativistischen Wahrnehmung von Wissen fundierte Argumente liefert. In seiner Auffassung ist eine Börse ebenbürtig mit Universitäten und Gelehrtengesellschaften als historische Institution zu verstehen, die Wissen, Wahrheit und Werte schafft, die auch über ihren Kontext hinaus Wirkung entfalten können.

Diese Erkenntnis schien aber sowohl dem Publikum als auch den Veranstaltern zu wenig herzugeben und so wurde im Anschluss noch ein Film der 30er Jahre über die Schweizer Börse vorgeführt, der wohl hauptsächlich als Referenz an den Ort der Veranstaltung gewählt wurde (der Regisseur war Hans Richter – ein ehemaliger Dadaist), und den Prof. Dr. Monika Dommann als «ein Zusammenkommen des Undenkbaren; des Kapitalismus, Avantgardismus und Linksaktivismus» beschrieb. Daraufhin wurde die Diskussionsrunde eröffnet, für die sich neben Leins und Dommann auch noch Prof. Dr. Matthieu Leimgruber zu Flandreau gesellten.

Dass diese Runde hauptsächlich versuchte, einen Bogen von Flandreaus Arbeit zum heutigen Finanzmarkt zu schlagen, mag wohl in der Absicht geschehen sein, populärere Interessensgebiete miteinzubeziehen. Auf jeden Fall schien aber niemandem aufzufallen, dass der viel näherliegende zeitgenössische Bezugspunkt nicht der Finanzmarkt, sondern die Geisteswissenschaften gewesen wären, die von den Diskussionsbeteiligten selbst praktiziert werden. Vielleicht lag es auch an der Sprachbarriere zwischen den Akademikern, die sogar mittels Dolmetscher zu überwinden versucht wurde – die Frage aber, wie die Wissens- und Wertevorstellungen eines Wirtschaftshistorikers wie Leimgruber oder eines Anthropologen wie Leins in der heutigen Zeit von anderen «Wahrheiten schaffenden» Wirtschaftsinstitutionen beeinflusst sein könnten, blieb leider unausgesprochen. Auch Flandreau selbst wagte sich nicht aus seinem Forschungsgebiet heraus und meinte nur anregend: «Mich interessiert generell die Rolle spezifischen Wissens in spezifischen Zeiten». Dass er primär Wissens- und nicht Wirtschaftsgeschichte betreibt, wurde zwar von Dommann angesprochen, doch gab auch sie damit der Diskussion keine neue Richtung.

Stattdessen kam der Teil des Publikums auf seine Rechnung, der wohl eher auf Kapitalismuskritik statt auf Wissensgeschichte hoffte, als Leins und Leimgruber die Rolle von sozialen Netzwerken an Eliteuniversitäten für die Wirtschaft diskutierten. Flandreaus Bemerkung, dass die Untersuchung solcher Netzwerke wohl weniger essenziell wäre, als die Frage, wie der Finanzmarkt überhaupt zu seiner Rolle als prestigeträchtige, Werte schaffende Institution kam, beendete leider die Diskussion, wo sie sie doch eher hätte anstossen sollen.

Der Ausgang des Abends verdeutlichte, dass öffentliches Interesse an einem akademischen Diskurs nicht immer ein reiner Segen sein muss, sondern auch zum Fluch werden kann. Dann nämlich, wenn Haltungen, Erwartungen und politische Brisanz beginnen, das Thema zu lenken und zu beschränken.


Literatur