STATISTISCH GESEHEN WIRD IN DER SCHWEIZ ZIRKA ALLE DREI JAHRE ÜBER AUSLÄNDERPOLITISCHE THEMEN ABGESTIMMT. BERÜHMT GEWORDEN SIND DIE ÜBERFREMDUNGSINITIATIVEN, ALLEN VORAN DIE SCHWARZENBACH-INITIATIVE. MICH INTERESSIERT IN MEINER MASTERARBEIT, WORIN DIE INITIANTEN UND BEFÜRWORTER VON ÜBERFREMDUNGSINITIATIVEN ZWISCHEN 1970 UND 2000 DIE PROBLEME SAHEN UND OB UND WIE SICH IHRE ARGUMENTE IM LAUFE DER ZEIT GEÄNDERT HABEN. LÄSST SICH DIE IN DER MIGRATIONSFORSCHUNG VERBREITETE THESE BESTÄTIGEN, DASS JEWEILS DIE ZULETZT EINGEWANDERTEN MIGRANTENGRUPPEN ALS SÜNDENBÖCKE HERHALTEN MÜSSEN?
Der Begriff der Überfremdung ist wohl eine Kreation des Zürcher Armensekretärs Carl Alfred Schmid. Seit seiner erstmaligen Verwendung um 1900 hat er eine rapide Karriere hingelegt und Eingang in politische Programme und sogar behördliche Bestimmungen gefunden. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz sank bis zum Jahr 1940 auf fünf Prozent, was zumindest zum Teil an Überfremdungsängsten und der daraus resultierenden restriktiven Einwanderungspolitik lag. Von 1950 bis 1970 stieg die Zahl der Einwandererinnen und Einwanderer, vor allem aus dem italienischen Raum, rasant an. Die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften war ein konstanter und bestimmender Faktor in der Einwande- rungspolitik der Schweiz geworden. Max Frischs Ausspruch aus den 1960er-Jahren «Man rief Arbeitskräfte und es kamen Menschen» ist mittlerweile ein geläufiges Bonmot. Das Zusammenleben gestaltete sich dabei nicht immer konfliktfrei und der Anstieg der ausländischen Wohnbevölkerung führte in einigen Kreisen zu Unbehagen. 1968 wurde die erste Überfremdungsinitiative durch die Demokratische Partei lanciert, jedoch aufgrund des Drucks von Bundesrat und Öffentlichkeit wieder zurückgezogen. Die 1961 gegründete Nationale Aktion für Volk und Heimat, die Vorläuferorganisation der heutigen Schweizer Demokraten, lancierte daraufhin ebenfalls eine Überfremdungsinitiative, die nach dem berühmten, aus einer Zürcher Textilindustriellenfamilie stammenden James Schwarzenbach benannt wurde und als Schwarzenbach-Initiative in die Geschichte einging. Die Initiative fordert eine Reduktion und Plafonierung der ausländischen Bevölkerung bei zehn Prozent. Ihre Annahme hätte die Ausweisung von 350‘000 Ausländerinnen und Ausländern, vor allem von Italienern zur Folge gehabt. Selten hat eine Initiative die Gemüter in der Schweiz so erhitzt. Die Wahlbeteiligung lag bei 74% und die Initiative wurde 1970 mit 46% Ja-Stimmen knapp abgelehnt. Die selbsternannten Überfremdungsgegner witterten ihre Chance und sollten von nun an in fast schon regelmässigen Abständen weitere Überfremdungsinitiativen lancieren.
Worin aber erblickten die Befürworter der Schwarzenbach-Initiative die Überfremdung? Was war problematisch an ihr? Ich habe die Argumente der Initianten in Parteizeitungen, Leserbriefen, Interviews, Flyer, Broschüren und in weiterem Abstimmungsmaterial untersucht, um diese Fragen beantworten zu können. Die Überfremdung wurde als problematisch empfunden, da Fremde für sie aus einer vulgärbiologischen Argumentation heraus als Fremdkörper im Vaterland wahrgenommen wurden, die letztlich nicht integrierbar seien. Ich konzentrierte mich bei der Untersuchung konsequent auf die Äusserungen zur Überfremdung und behandle die Einwanderung nicht im Allgemeinen, sondern nur insofern sie in Verbindung zu Überfremdungsängsten steht. Denn die Einwanderung wurde zum Teil auch aus sozialen, ökonomischen und sogar aus ökologischen Gründen abgelehnt. Mich interessierte aber die Konstruktion des Fremden und die Argumente gegen die Überfremdung im Wandel der Zeit.
Das Bild, das die Initianten von den Ausländern zeichneten, zeigt nicht nur, was für diese problematisch an der Einwanderung war, sondern es offenbart auch ihre ideologischen Denkmuster. Die Initianten pflegten oftmals ein Weltbild mit deutlich biologisch-rassistischem Vokabular. So rief etwa die Nationale Aktion in ihrer Monatszeitung «Volk und Heimat» nach dem Rückzug der Initiative, den sie als «Verrat am Volk» deuteten, zu radikalem Handeln auf: «Selbst wenn wir unsere Grenze hermetisch abschliessen, wird es immer mehr Ausländer geben: Sie brauchen nicht mehr einzuwandern – sie werden hier geboren!». Das internationale Kapital und entwurzelte Intellektuelle hätten sich verschworen, die nationale Eigenart der Schweiz lächerlich zu machen. Sie würden sich anschicken, das Schweizer Blut durch ausländisches zu ver- dünnen, so die Journalisten der «Volk und Heimat». Es werde in einigen Jahren keine «echten Schweizer» mehr geben, sondern nur noch einen «griechisch-spanisch-italienischen Einheitsschweizer, dessen Name man weder schreiben noch aussprechen kann.» Die Überfremdungsängste resultierten aus einem biologischen Rassismus, der für Blutsreinheit plädierte und den Kindern aus sogenannten Mischehen das Schweizersein absprach. Ferner wurde an antisemitische Ressentiments angeknüpft und das internationale Kapital für die Einwanderung verantwortlich gemacht.
In der Wahrnehmung der in der Schweiz wohnhaften Ausländerinnen und Ausländer als nicht integrier- und assimilierbare Fremdkörper wurde dabei keine Differenzierung vorgenommen zwischen verschiedenen Einwanderergruppen: «Nur ein total vertrocknetes Bürokratenhirn kann glauben, dass ein Sizilianer oder ein Türke zu einem Schweizerbürger werde, wenn man ihm den Schweizerpass in die Hand drückt.» Die Immigranten wurden durch Rekurs auf einen biologischen Rassismus zu ewigen Fremden verdammt. Aus der Sicht der Nationalen Aktion und der Befürworter der Initiative war es deshalb nur natürlich 1.2 Millionen Ausländer als Problem zu empfinden.
In meiner Masterarbeit lege ich zwar Wert darauf, die Überfremdungsinitiativen bis zur 18%-Initiative im Jahre 2000 zu überblicken, um allfällige Tendenzen und Diskontinuitäten festzustellen, setze aber den Schwerpunkt der Analyse vor allem auf die Schwarzenbach- und die 18%-Initiative. Von 1970 bis zum Jahrtausendwechsel wurden etwa zehn Initiativen lanciert, die alle eine Beschränkung der ausländischen Wohnbevölkerung forderten. Einige sind schon im Sammelstadium gescheitert, andere wiederum für ungültig erklärt worden, da sie dem Schweizer Recht widersprachen. Abgestimmt wurde schliesslich über sechs Überfremdungsinitiativen, die zumeist auch von den Initianten als solche bezeichnet wurden. Im Kontext des Wandels historischer Diskurse ist interessant, dass sich die Verwendung des Begriffs der Überfremdung verändert hat. Während man in den 1970ern noch keinerlei Berührungsängste mit dem Begriff hatte, erfährt er in den 1990ern immer mehr Ablehnung und wird deshalb aus politisch-taktischen Gründen tendenziell vermieden. Die Ziele der Initianten erfahren derweil keine entscheidende Veränderung.
Die ausländische Wohnbevölkerung der Schweiz stagnierte 1995 kurzzeitig bei 18% und der spätere FDP-Präsident Philipp Müller trat für eine Plafonierung bei diesem Wert ein. Er stellte ein überparteiliches Komitee auf, da ihm seine Partei trotz vorangegangener zustimmender Worte die Unterstützung plötzlich verweigerte. Das Initiativkomitee, unter anderem bestehend aus Mitgliedern der FDP, SVP und der Schweizer Demokraten, lancierte daraufhin die sogenannte 18%-Initiative. Philipp Müller war sehr bedacht darauf, nicht in der Tradition früherer Überfremdungsinitiativen verortet zu werden. Trotz seinen Distanzbekundungen lag allerdings der einzige Unterschied darin, dass die früheren Überfremdungs- initiativen eine Reduktion und eine Obergrenze verlangten, während er keine Reduktion, sondern nur eine Obergrenze forderte. Da die Plafonierungsforderung aber – wie aus den Argumenten der Abstimmungsmaterialien ersichtlich – auch aus Überfremdungsängsten resultierte und die Befürworter früherer Überfremdungsinitiativen dem Ansinnen von Müller sofort ihre Unterstützung zusicherten, müssen die Beteuerungen des ehemaligen FDP-Parteipräsidenten als unglaubwürdiges politisches Manöver gedeutet werden. Die Initiative wurde schliesslich im Jahr 2000 zur Abstimmung gebracht und mit 63% vom Stimmvolk verworfen.
Die Initianten der 18%-Initiative warben ebenfalls mit dem schon beim Abstimmungskampf der Schwarzenbach-Initiative rege heraufbeschworenen Topos des «belogenen und verratenen Volkes». Die Regierungspolitiker seien ignorante Lügner. In vielen Schulen seien Schweizer Kinder bereits in der Minderheit. Das sorge dafür, dass das Schulniveau sinke und die Zahl von Gewalttaten steige, so die Initianten in ihren Abstimmungsbroschüren. Tatsächlich erfolgte aber ein deutlicher argumentativer Bruch mit dem biologisch-rassistischen Vokabular der früheren Überfremdungsinitiativen. Die Initianten der 18%-Initiative kritisierten nicht die biologische Überfremdung, sondern die kulturelle: «Früher kamen die Ausländer aus benachbarten Ländern. Sie konnten relativ leicht in unsere Gesellschaft integriert werden. Jetzt hingegen wird unser Land von nicht assimilierbaren Zuwanderern aus der Dritten Welt überflutet». Im Gegensatz zur Argumentation im Überfremdungsdiskurs der 1970er-Jahre wird nun eine Differenzierung und Hierarchisierung innerhalb der Einwanderergruppen vorgenommen. Italienerinnen, Spanier und Deutsche, die früher als nicht integrierbare Fremdkörper wahrgenommen wurden, gelten nun nicht mehr als echte Ausländerinnen und Ausländer. Die Schweiz wird plötzlich als ein Teil einer europäischen Gesamtkultur gesehen und die Differenzen zu anderen europäischen Kulturen und Ländern dabei als minimal und unproblematisch erachtet, wohingegen die Ausländerinnen und Ausländer aus dem Balkan, der Türkei und aus Afrika nun als nicht integrierbare Fremdkörper gesehen werden. Einwanderer und Einwandererinnen aus diesen Regionen werden zu passiven, maschinenhaften und unveränderbaren Mitgliedern einer homogenen und statischen Kultur stilisiert, die der Schweiz letztlich immer fremd bleiben müssen. Da die Einwanderung ab den 1990er-Jahren vor allem aus diesen Regionen zu verzeichnen war, wurde eine Plafonierung mit der Unmöglichkeit einer Integration begründet. Denn aus der Sicht der Initianten waren Einwanderer aus nichteuropäischen Ländern letztlich nicht assimilierbar und würden als ewige Fremdkörper zur Überfremdung der Schweiz führen.
Die Überfremdungsdiskurse zwischen 1970 und 2000 erfahren einen entscheidenden Bruch im Wechsel von biologischen zu kulturellen Begründungen der Überfremdungsinitiativen dieser Jahre. Während in den 1970ern die isolationistische Verortung der Schweiz als Einzelgängerin in Abgrenzung zu jeglichen Ausländerinnen und Ausländern überwiegt, lokalisieren die Befürworter der 18%-Initiative die Schweiz als Teil Europas, die sich gegen das nichteuropäische Ausland absondern muss. Essentialismus und Determinismus bleiben aber dennoch als zentrale Kategorien des politischen Denkens erhalten und erfüllen die Aufgabe, Einwanderer und Einwandererinnen immer wieder als unveränderliche und ewige Fremdkörper zu stigmatisieren, sei dies nun aus biologischen oder kulturellen Gründen.
Dabei werden weder der Nations- noch der Kulturbegriff jemals Gegenstand einer Begriffsbestimmung, einer Reflexion oder einer Historisierung. Auch wird nie die Frage aufgeworfen, ob es denn nicht intranationale kulturelle Differenzen gibt. Die ganze Funktion des Kulturbegriffs der Überfrem- dungsdiskurse erschöpft sich in der Ausgrenzung der zuletzt eingewanderten Migrantengruppen. Die Sündenbock-These, wonach die zuletzt immigrierten Einwanderergruppen jeweils als Problem gelten und genau jene Argumente gesucht und betont werden, die eine Diskriminierung oder Ablehnung dieser Migrantinnen und Migranten möglich macht, bestätigt sich. Dass dabei früheren Argumenten widersprochen wird oder extrem unplausible ideologische Erklärungsmuster herangezogen werden – wie zum Beispiel statische, homogene Kulturbegriffe – scheint keine Rolle zu spielen. Somit muss, die Überfremdungsinitiativen von 1970 bis 2000 überblickend, dem Philosophen und Historiker Angelo Maiolino beigepflichtet werden: Die Rollen bleiben, nur die Darsteller wechseln. Die Personen und ihre Argumente ändern sich zwar, aber die Betrachtungsweise der Ausländerinnen und Ausländer als Fremdkörper und der Zweck der Ausgrenzung bleiben den Argumenten inhärent.
Dass die oftmals rassistischen, aus einem kulturellen Essentialismus resultierenden Überfremdungsängste, welche sich im politischen Diskurs der 18%-Initiative manifestierten, noch nicht ganz aus den Köpfen verschwunden sind, durfte ich kürzlich am eigenen Leib erfahren, als mir eine Einschreibung ins Fitnesscenter mit der Begründung verweigert wurde, man würde nur noch Schweizer oder Ausländer aus Nachbarländern aufnehmen. Vielleicht wird man in einigen Jahrzehnten über die Überfremdungsdiskurse unserer Gegenwart und über deren Konstanz und Diskontinuitäten schreiben. Hoffentlich dann aber als längst vergangene Phänomene.