Das US-Amerikanische Hochschulsystem ist bekannt für seine grosse Vielfältigkeit: Zwischen Trumps Fake-University und Harvard gibt es eine beeindruckende Spannbreite an grösseren und kleineren, schlechten und exzellenten, teuren und sehr teuren Unis. Doch wie studiert es sich in der Mitte dieses Spektrums? Ein Austauschsemester im ländlichen Mittleren Westen bot Einblick in die Eigenheiten des Studiums an einer kleinen Uni – und Erlebnisse rund um abgebrannte Bars, Chicken Nugget-Pizzas und uramerikanische Hobbies.
Illinois betreibt an drei Standorten Universitäten: Chicago, Urbana-Champaign und Springfield. Letztere kam erst 1995 zum University of Illinois-Verbund hinzu und entschwindet im Vergleich mit den beiden anderen, grossen und prestigeträchtigen Hochschulen regelrecht aus dem Blickfeld. Die University of Illinois in Springfield muss sich entsprechend positionieren und richtet sich an zwei Zielgruppen. Sie ist einerseits das natürliche Gravitationsfeld für Leute aus der näheren Umgebung, die eine günstige, aber solide Ausbildung suchen. Andererseits ist es ein Geschäftsmodell der Universität, Inderinnen und Inder mit einem Informatik-Bachelor anzuwerben, da Internationals höhere Studiengebühren zahlen.
Ein kleiner Campus also, umgeben von den Maisfeldern Illinois‘, gefüllt mit lokalen Amerikanern, Indern (drei davon meine Mitbewohner) und einigen ratlosen Europäern. Die Kleinheit – die UZH hat die knapp fünffache Anzahl Studenten – war ein definierender Teil meiner Zeit an der Uni, wobei die Isolation des Campus-Systems und die Abgeschiedenheit für Studenten ohne eigenes Auto zur gefühlten Kleinräumigkeit beitrugen. Zu Fuss waren weder die Stadt Springfield noch der Walmart erreichbar und die Busse fuhren nur bei Tags halbwegs regelmässig. Dazu kommt, dass in der zweiten Semesterwoche ein Brand die einzige Bar in Gehdistanz zerstörte, was uns besonders hart traf, da es auch keine Studentenbar auf dem Campus gab. Ein Königreich für Uber!
Ebenfalls relativ klein ist das Department of History der UIS, das insgesamt weniger Leute beschäftigt, als das HS Lehrstühle hat. Entsprechend schmal sind das Kursangebot und das Studium strukturiert: Vor allem das Basisstudium ist thematisch standardisiert und auf amerikanische Ereignisgeschichte fokussiert. Was nicht heissen soll, dass die Fakultätsmitglieder sich nur mit Amerika beschäftigen – das vormoderne Ostasien und die arabische Identität liegen ebenso im Spektrum der Forschungsschwerpunkte. Insbesondere vor der Anreise ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass Forschung und Lehre an einer kleinen Provinzuni wohl kaum mit Zürich mithalten könne, und der Nutzen des Austauschsemesters folglich nicht akademischer, sondern eher kultureller Natur sein würde.
Zu einem gewissen Grad hat sich das auch bewahrheitet, die institutionellen Unterschiede lassen sich nicht wegdiskutieren. Die Auswahl der Kurse beispielsweise ist kleiner und die freie Gestaltung des Studiums relativ beschränkt. Was bei dieser Denkweise aber untergeht, ist der menschliche Faktor. Denn wieso sollten die Leute von der UIS weniger engagiert sein oder weniger zu sagen haben über ihr Forschungsgebiet? Auch was die Alltäglichkeiten des Studiums angeht, kam mir vieles bekannt vor. Wie meine Kommilitonen und Kommilitoninnen geklagt, geschnödet und gelobt haben, entsprach relativ genau den Schemata, die auch im HS-eigenen Studentendiskurs vorzufinden sind. Erfrischend war der methodische Fokus der Kurse: viel Lesen und häufiger, dafür kürzere Texte schreiben. Beispielhaft war ein Reading Seminar zur Stadtgeschichte der USA. Im Wochentakt lasen wir grundlegende Bücher der amerikanischen Stadtgeschichte und fassten jeweils im Vorhinein Argument und Inhalt des jeweiligen Buches in wenigen Sätzen zusammen. Das ist zwar zeitintensiv, spornte aber an, effizientere Lese-Strategien zu finden und baute Hemmungen ab, wagemutige Resümees hinzuschmeissen. Wobei ich ersteres trotzdem nicht gemeistert habe und zweites zugegeben eine fragwürdige Fähigkeit ist.
Insgesamt folgten aber Unterricht und Umgang am Department of History in vielen Hinsichten bekannten Abläufen und boten einen Anker der Normalität an dem seltsamen Ort, den der Campus der UIS war. Er erinnerte mich manchmal an die fiktive Stadt Twin Peaks aus David Lynch’s gleichnamiger Serie. Während oberflächlich alles den gewohnten Regeln der Realität zu gehorchen scheint, machen sich hinterrücks Sonderbarkeiten bemerkbar, die auf die Schweizerische Befindlichkeit eine etwas verstörende Wirkung haben können.
Das können kleine Dinge sein, wie die Pizza mit Chicken Nuggets, Onion Rings und Barbecue Sauce, die es eines Tages in der Mensa gab (und sogar das vorwöchige Modell mit Mac’n’Cheese in den Schatten stellte). Aber auch einige Rahmenbedingungen waren absurd: Das Rauchverbot auf dem gesamten Campus-Areal führte dazu, dass sich erwachsene Leute wieder wie Primarschüler hinter der Hausecke versteckten um zu rauchen, und an den Hauspartys (die zwar witzig waren, aber leider nicht so witzig wie in den Filmen) brach regelmässig Panik aus, da jemand die Campus-Polizei auf Patrouille vermutete und sich – wie immer – alkoholisierte Leute unter 21 im Raum befanden. Das Leben auf dem Campus glich manchmal einer infantilisierten Parallelgesellschaft.
Den ersten Preis im Seltsamkeits-Wettlauf gewann aber Jake, Ex-Marine, Redneck und mit mir im Colonial America-Seminar. Er machte die paradigmatische amerikanische Provinz-Erfahrung möglich: Schiessen. Wir fuhren zu seinem Mobile Home, das er mit einem Mitbewohner für 150 Dollar im Monat mietete, wählten aus einem guten Dutzend Waffen verschiedenster Kaliber und Herkunft, die er zur besseren Auswahl auf dem Bett seines unaufgeräumten Zimmers drapiert hatte, einige aus und erschossen dann Getränkedosen und Melonen in den leeren Pferchen seines Chefs (ein Viehauktionär). Jake entsprach so durchgängig den mir bekannten Stereotypen von US-Amerikanischen Hinterwäldlern, dass schlussendlich sein Geschichtsstudium das Seltsamste an ihm war.