Was hat Literatur in der Geschichte zu suchen? Nichts, sagen die einen, Fakt und Fiktion gehören getrennt. Doch unser Autor findet: Wer so argumentiert, macht es sich zu einfach. Denn auch der Blick auf das Erfundene kann Wahres zutage bringen.
Fünf Semester Geschichte. Soviel habe ich bereits auf dem akademischen Buckel. Dazu kann ich folgende Bilanz ziehen: Alles, aber wirklich alles kann man aus dem Blickwinkel der Geschichtswissenschaft betrachten.
Werden etwa Tiere nur in der Biologie untersucht? Keineswegs. Erst vor kurzem hing neben dem Eingang der HS-Bibliothek ein Werbeblock für Studien, die sich mit der Geschichte von Tieren beschäftigen. Sind Emotionen nur ein Thema für Psychologen? Weit gefehlt. Nächstes Semester wird eine Veranstaltung am HS angeboten, die die Geschichte von Gefühlen – gekoppelt an das Geschlecht – seit dem 19. Jahrhundert aufrollt. Und auch wer glaubt, dass die Aushandlungen von Leben und Tod eine rein philosophische oder ethische Sache sind, hat die Rechnung ohne die Historiker gemacht.
Die mögliche Bandbreite historischer Fragestellungen wird also immer grösser, immer interkultureller, immer intermedialer. Und doch wird eine Quellengattung mehr als stiefmütterlich behandelt: literarische Werke, die den künstlerischen Aspekt nicht komplett aufgegeben haben. Kann ein historischer Stoff, der von einem Dichter oder Schriftsteller geschaffen wurde, noch seriös verwendet werden? Die übliche Antwort darauf lautet Nein. Entweder haben diese Zeugnisse einen historischen oder literarischen Kern, und im letzten Fall ist der Stoff verloren für aussagekräftige, historische Analysen.
Das ist natürlich überspitzt formuliert. Dennoch werden dichterische oder künstlerische literarische Quellen eher beargwöhnt als bejubelt. Diese Behandlung ist interessant, da vor allem in der Antike und zum Teil auch im Mittelalter eine klare Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion oft schwierig ist. Wobei dieses Dilemma natürlich nur für jene gilt, die so etwas wie «Fakten» noch nicht ad acta gelegt haben.
Denn ein Vergleich zwischen Fiktion und Fakt kann sehr wohl Neues zu Tage bringen. Das konnte ich bei der Lektüre von zwei Autoren aus der Antike feststellen. Der erste – Cäsar –braucht keine Einführung, der zweite – Lucanus – hat in der Zeit von Nero, der angeblich Harfe spielte als Rom brannte, ein Epos zum Bürgerkrieg geschrieben, der zwischen Cäsar und dem Senat ausgetragen wurde.
Eine berühmte Redewendung nimmt genau auf diesen Bürgerkrieg Bezug: «Den Rubikon überschreiten». Mit der Überquerung des gleichnamigen Flusses 49 v. Chr., überschritt Cäsar nämlich eine Grenze, von der es kein Zurück mehr gab. Nun findet dieser Moment in Cäsars Kommentaren zum Bürgerkrieg keine Erwähnung, obwohl diese Überquerung an sich eine Kriegserklärung bedeutete. Stattdessen berichtet Cäsar von einer Rede, die er vor seinen Soldaten hielt. Zustimmung und Jubel sollen auf seine Erklärung gefolgt sein, nun gegen Rom, gegen den Senat und letztlich gegen ihre Heimat in den Krieg zu ziehen.
Lucanus stellt die Situation anders dar. Er gibt die Überquerung des Rubikons szenisch wieder und lässt eine Art Göttin, die «patria» erscheinen, die Cäsar und seine Soldaten warnt, nicht weiter zu gehen, wenn sie Bürger Roms seien. Cäsar hält nochmal für einen kurzen Moment inne: «Da schüttelte Grauen den Feldherrn, sein Haar sträubte sich, Lähmung hemmte seinen Schritt und heftete seinen Fuß an den Rand des Ufers.» Dennoch überquert er zusammen mit seinen Soldaten den Fluss. Die Rede Cäsars an seine Soldaten folgt dann gemäss Lucanus erst nach der Überquerung. Die Reaktion auf diese fällt hingegen nicht so überschwänglich aus, wie es in den Kommentaren daherkommt. Die Soldaten sind verunsichert: Ist das Recht wirklich auf ihrer Seite?
Wenn man von der Reihenfolge des Geschehens absieht, wird in beiden Quellen grundsätzlich der gleiche Sachverhalt geschildert. Nur mit dem Unterschied, dass in der literarischen Fiktion etwas möglich ist, das sonst nicht möglich ist: Man kann etwas über die Beweggründe und Zweifel der Soldaten aussagen. Genau hier können dichterische Werke nun Lücken füllen, denen mittels der herkömmlichen Quellen nicht beizukommen ist, da schlichtweg keine Selbstzeugnisse der Soldaten überliefert sind.
Ein anderes Beispiel, diesmal für die Neuzeit, sind die Verlustzahlen des Ersten Weltkrieges. Die Millionen von Toten sind schlichtweg nicht vorstellbar, wenn einem die nackten Zahlen an den Kopf geworfen werden. Erst bei der Lektüre von Erich Maria Remarque oder Ernst Jünger bekommen diese Zahlen wieder einen Namen, eine eigene «Geschichte». Die gewaltigen Verluste werden greifbar, wenn Paul Bäumer (der Protagonist aus «Im Westen nichts Neues») aus dem Lazarett zurückkehrt und seine Kameraden, die uns auf hundert Seiten bisher begleitet haben, innerhalb von zehn Seiten fallen. Einer nach dem anderen. Ebenso kann die Abhärtung, die so viele in diesem Krieg erlebten, verständlich gemacht werden, wenn sie sich auf Jüngers eigene Betrachtungsweise einlassen, die dem einzelnen Soldaten ein Mass von Entscheidungskraft zuspricht, das von Historikern angesichts der Material- und Menschenmassen in diesem Konflikt schnell ausser Acht gelassen wird.
Natürlich lassen sich diese Beispiele relativieren oder kritisieren, doch wenn wir ehrlich sind, beginnen viele genau deshalb Geschichte zu studieren: Man liest ein packendes Buch, sieht einen historischen Film oder spielt ein Computer-Game wie Age of Empires.
Vielleicht hilft hier der Miteinbezug eines Gedankens von Hayden White, der die Vorstellung des Fiktionalen als Darstellung des Vorstellbaren und die Geschichtsschreibung als Darstellung des Tatsächlichen, als alt bezeichnete. Man könne das Tatsächliche nur erkennen, wenn es mit dem Vorstellbaren verglichen werde. Was schliesslich nichts anderes bedeutet, als dass man wieder einmal Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, miteinbeziehen sollte. Sie, die doch in all diesen Medien steckt und die unsere Leidenschaft für das Studium der Geschichte überhaupt erst entfacht.