Mehr als nur Kriege und Kaiser

Ein sozialhistorisches Wagnis zahlt sich aus. Der Historiker Géza Alföldy legte 1975 eine etwas andere Studie über die römische Gesellschaft vor: Römische Sozialgeschichte. Sie ist heute noch aktuell – und auch für Studis ohne Flair für die Antike eine spannende Lektüre.

Géza alföldy ist wohl einer der bedeutendsten Althistoriker des 20. Jahrhunderts. Der gebürtige Ungar lehrte an den Universitäten Bochum und Heidelberg alte Geschichte und Epigraphik. Inspiriert von den eigenen Studierenden während seiner Bochumer Zeit sowie von Berufskolleginnen und -kollegen aus der neueren Geschichte, verfasste er mit der Römischen Sozialgeschichte als einer der Ersten einen Gesamtüberblick über die Geschichte der römischen Gesellschaften. Alföldy selbst bezeichnete seinen Versuch als Wagnis, das sich ausgezahlt habe. 1975 erschien die erste Ausgabe. Mittlerweile ist bereits die 4. Auflage auf den Markt gekommen.

Die Struktur des Buches gliedert sich in sieben Kapitel, welche sich stark an den konventionellen Epochenbezeichnungen der römischen Geschichte orientieren. Das Prunkstück ist die Auseinandersetzung mit der Gesellschaftsordnung der Prinzipatszeit (Kapitel 5). Die Kapitel sind chronologisch aufgebaut, womit sich die Römische Sozialgeschichte auch für Studierende eignet, welche einen allgemeinen Überblick über die römische Geschichte erhalten möchten.

In den ersten beiden Kapiteln befasst sich Alföldy mit der frührömischen Zeit. Er unternimmt dabei den Versuch, die Gesellschaft der frühen römischen Republik zu rekonstruieren. Dabei kommt er zum Schluss, dass sich nach den Ständekämpfen das archaische Gesellschaftssystem veränderte. die Aristokratie wurde nicht abgeschafft, jedoch konnte sich ein neuer Adel aus plebejischer Abstammung ebenfalls im System etablieren. Zu recht kann man sich fragen, inwiefern ein solches Unterfangen bei der dürftigen Quellenlage überhaupt zufriedenstellend umgesetzt werden kann. So bleiben auch gewisse Erkenntnisse eher hypothetisch.

In Kapitel 3 spricht Alföldy von einem Strukturwandel, der durch die Expansion Roms eingesetzt hatte. Nach dem zweiten punischen Krieg habe sich die Gesellschaft Roms grundlegend verändert. Die vielen neuen Möglichkeiten, welche sich dem neuen Weltreich boten, bargen jedoch auch Gefahren. Die römische Gesellschaft zeichnete sich durch eine starke Differenzierung aus, weshalb Rom immer deutlicher auf eine Krise hinsteuerte. Aufgrund der besseren Quellenlage dieser Zeit gelingt es Alföldy in diesem Kapitel, seine Argumentation überzeugender zu untermauern. Er arbeitet dabei hauptsächlich mit Rechtsquellen, wobei er auch einige literarische Werke für seine Analyse verwendet. Dadurch vermag er den von ihm postulierten Strukturwandel, der das ganze System betraf, innerhalb der verschiedenen Gesellschaftsschichten verständlich aufzuzeigen.
Kontinuität statt Revolution
Das Kapitel über die Krise der Republik funktioniert schliesslich als eine Art Einleitung in die folgenden Erläuterungen zur Prinzipatszeit. Es ist eine Epoche, die von diversen sozialen Unruhen begleitet war, welche ihre Gipfel im römischen Bürgerkrieg und dem damit verbundenen Ende der Republik fanden. Im Gegensatz zu anderen Althistorikern benutzt Alföldy für diese Zeit der Unruhen nicht den Begriff der «Revolution». In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Forschungsmeinungen zeigt er auf, dass der Begriff der Römischen Revolution
aufgrund der Heterogenität der verschiedenen, teils aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammengesetzten Bewegungen nicht passend ist. Er argumentiert, dass es zwischen Republik und Prinzipat eine bemerkenswerte Kontinuität gab. An den Grundsätzen des römischen Staatssystems wurde trotz verschiedener Reformen nicht wirklich gerüttelt.

Keine Geschichte von unten

Dies bestätigt Alföldy auch im umfangreichsten Kapitel: dem über die Gesellschaftsordnung der Prinzipatszeit. Er präsentiert darin auch sein bekanntes Modell der Gesellschaftspyramide, welches seiner Meinung nach gerade die oben angesprochene Kontinuität verdeutlicht. Die spätrepublikanische Gesellschaftsordnung habe sich trotz kleinerer Modifizierungen nicht gross von der frühkaiserlichen unterschieden und die prosperierende imperiale Wirtschaft habe stark zu dieser Stabilität beigetragen. Wie jedes Modell ist natürlich auch dieses
eine Vereinfachung, dennoch eignet es sich gut, um die römische Gesellschaft zu verstehen. Man erkennt beim Lesen des Kapitels, dass diese Zeit Alföldys
Spezialgebiet war. So werden die verschiedenen Gesellschaftsschichten hier am deutlichsten beschrieben. Sein Ansatz ist aussergewöhnlich: Er betreibt nicht wie viele andere Sozialhistoriker und -historikerinnen history from below, sondern
beginnt mit den Oberschichten. Diese werden zudem umfangreicher beschrieben, was wohl auch durch die Überlieferungslage  bestimmt wird. Dennoch kommen Aspekte der unteren Gesellschaftsschichten – wie zum Beispiel Sklaven – zur Geltung. Kritisiert wird Alföldys Modell oft, weil ein Mittelstand gänzlich fehlt, obwohl dieser von vielen seiner Berufskollegen postuliert wird.

Für Diskussionsstoff innerhalb der Disziplin sorgte auch das nächste Kapitel, bei welchem sich Alföldy mit der Krise des römischen Reiches im 3. Jahrhundert beschäftigt. Er widmet dabei ein ganzes Unterkapitel der Frage, ob der Tod des letzten Kaisers der Antoninen eine Krise oder eine Transformation
auslöste. Dabei bezieht er in den neueren Auflagen auch die aktuellsten Forschungen mit ein.

Ein Klassiker entsteht

Im letzten Kapitel wird die spätrömische Gesellschaft bis zum Untergang Westroms besprochen. Die wirtschaftliche Krise, Barbareneinfälle sowie der immer stärker unterdrückende Staatsapparat hatten einen negativen Einfluss auf das Imperium. Während einige Forschende allein die Barbareneinfälle als Ursache für den Zerfall Westroms sehen, räumt Alföldy auch dem sozialen Wandel einen gewissen Einfluss ein. Man muss die Lösung wohl in der Schnittmenge suchen. Das Imperium
war lange Zeit in der Lage, die Barbaren abzuwehren, dadurch hat sich aber die Gesellschaft nachhaltig verändert. Die Macht verschob sich zunehmend in die Randprovinzen, wodurch die Hauptstadt Rom – und damit auch die traditionellen Schichten – ihre Bedeutung einbüssten.

Alföldys Wagnis hat sich nicht nur für ihn, sondern für die ganze Forschungsdiskussion in der Alten Geschichte ausgezahlt. Sozialgeschichte wurde nun auch für die Altertumswissenschaften salonfähig. Die sozialgeschichtliche Forschungsdiskussion wurde insbesondere durch Kritik an Alföldy – wie zum Beispiel, dass er den Frauen in der römischen Geschichte zu wenig Beachtung geschenkt habe – weiter angeregt. Das einstige Pionierwerk hat sich mittlerweile als veritables Standardwerk der römischen Sozialgeschichte etabliert.