Was damals war, ist noch heute.
In der neuesten Sonderausstellung des Landesmuseums Zürich – die man noch bis Mitte Juli 2024 besuchen kann – erleben die Besuchenden den Körper aus vergangenen Perspektiven. Die Ausstellung lockt die Öffentlichkeit mit drei Worten ins Landesmuseum. Um die Größe der Ausstellung zu beschreiben, braucht man jedoch mindestens acht: Es sind acht Stationen, welche das Publikum durch den Neubau des Landesmuseums begleiten. Von der Geburt bis zum Tod, vom Anfang bis zum Ende.
Wer geboren wird, wird nackt geboren. Das war und ist noch immer gleich. Unter dem Titel «nackt» eröffnet die Ausstellung mit ersten interessanten Ausstellungsstücken. Gleich zu Beginn springt ein grosses Gemälde von Lucas Cranach (16. Jh.) ins Blickfeld. Darauf zu sehen: Adam und Eva im Garten Eden. Es ist der symbolische Beginn des Lebens. Gleich daneben – ein wenig unauffällig platziert – ein Buch aus dem 15 Jh., welches Tipps und Tricks rund um das Thema Geburt vermittelt. Die Exponate sind gut beleuchtet und jeder Abschnitt ist in einer anderen Farbe gekennzeichnet. Die Orientierung fällt nicht schwer.
Und so geht es schon zur zweiten Station: begehrt. Nun ist die Nacktheit keine Tatsache, sondern Kunst und weckt, wie der Titel besagt, Begehren. Schon die Menschen im Mittelalter wussten es: Sex sells. Heute sind explizite Inhalte allgegenwärtig in Medien und aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Obwohl umstritten, prangert kaum jemand mehr ihren verderblichen Einfluss auf den Charakter an. Im Mittelalter war das noch ganz anders: Die Künstler aus alter Zeit illustrierten zahlreiche moralisierende Bilder. Im Verständnis der Menschen damals war der sexuelle Trieb an sich ein Problem. Er war unsittlich und er sollte nur bestehen, damit die Ehe vollzogen und somit für Nachwuchs gesorgt werden konnte. Doch so moralisierend die Gemälde sind, so obszön gestalten sie sich. Abbildungen, welche den «Verfall der Tugend» zeigen, deuten auf genau diesen «Verfall der Tugend» beim Künstler selbst hin. Der Ausstellung gelingt es auf geschickte Weise, diese unterschwellige Doppelmoral aufzuzeigen.
Sport ist Mord. Wer auch immer dies gesagt hat – manche schreiben es Churchill zu – hätte zu Zeiten des Mittelalters nicht ganz unrecht gehabt. Der ideale Mann jener Epoche ist athletisch. So soll er seine Manneskraft in Turnieren zur Schau stellen und seinen Gegner zu Boden ringen, was nicht ganz ungefährlich war. Ähnlich wie damals kann man sich heute ebenfalls in aller Kreativität eins im Boxring auf die Nase geben. Und ähnlich wie damals wird man von allen Seiten beklatscht, wenn man den Gegner besiegt. Die Ideale, welche zu dieser Zeit galten, waren den unseren überraschend ähnlich. Die Frau sollte im Gegensatz zum Mann nicht athletisch, sondern jung, schön, wohlgenährt und blond sein. Lange Haare waren das A und O. Die Ausstellung zeigt die Ideale der damaligen Welt in Mitteleuropa und zeigt dabei kaum Unbekanntes. So kurios gewisse Kleidungen und Pflegeutensilien erscheinen, so ähnlich sind sie doch zu den heutigen. Und so führt uns die Pflege zum nächsten Abschnitt.
Wer heute krank ist, hat Glück. Wer damals krank war, hatte Pech. So oder so ähnlich kann man den Teil «krank» zusammenfassen. Ein grosser interaktiver Bildschirm, einer von mehreren, welche durch die ganze Ausstellung hindurch aufgestellt sind, zeigt dem Besucher, welche Sternzeichen mit welchen Körperteilen interagieren sollen. Man lernt ausserdem, was es mit der Viersäftelehre auf sich hat und wie welche Krankheit behandelt wurde. Das medizinische Wissen von damals ist bei weitem nicht mit unserem heutigen zu vergleichen und Massnahmen zur Heilung konnten genauso gut den Tod bedeuten. Dennoch zeigt dieser Teil, wie sehr sich die Menschen in der sogenannten «dunklen Zeit» mit dem Körper beschäftigt haben.
«anders» ist der kleinste Teil der Ausstellung. Doch wie sagt man so schön, in der Kürze liegt die Würze. Mit sehr wenigen doch prägnanten Stücken wird das Bild «anderer» Menschen zur damaligen Zeit aufgezeigt. In kurzen Texttafeln, wie sie in Museen üblich sind, wird erklärt, was die damaligen Menschen über Kleinwüchsige und andere «Monstrositäten» dachten und welche Menschen im Gebiet der «terra incognita» vermutet wurden. «Zyklopen» und «Fussmenschen», welche sich mit ihrem grossen Fuss Schatten spendeten, sind nur zwei der unzähligen Beispiele. Das Sonderbare reizte damals wie auch heute, auch wenn so manch unverblümte Darstellung bzw. Formulierung für das heutige Empfinden befremdlich wirkt.
Der Einstieg in den nächsten Abschnitt der Ausstellung ist nichts für schwache Nerven. «leidend» zeigt genau das, was der Titel besagt. Vom Verbrennen bis hin zum Rädern sind alle möglichen «kreativen» Foltermethoden dargestellt. Dabei im Zentrum: Das Martyrium. Subtil zeigten bereits die vorherigen Abschnitte den Einfluss der Kirche und des Glaubens auf das Leben der Menschen im Mittelalter auf. Im letzten Teil ist es alles andere als subtil. So kann man in bester Bildqualität allen möglichen Heiligen beim Sterben zusehen. Die Darstellungen in leidend zeigen eine Brutalität, wie sie in diesem Ausmasse selbst im Mittelalter selten zu sehen war.
Wer gemartert wird, findet nicht selten den Tod. Und so schliesst die Ausstellung langsam ab. Durch einen Vorhang, auf welchen der tanzende Tod projiziert ist, geht es zur letzten Station. Echte Leichen gibt es zum Glück keine zu sehen. Dafür Abbildungen, welche diese mal schöner, mal schauriger darstellen. Totengedenken und Jenseitsvorstellungen spielten im christlichen Mittelalter eine sehr grosse Rolle. Dementsprechend gingen die Menschen mit den Hinterbliebenen um. Wer es sich damals leisten konnte, kümmerte sich noch zu Lebzeiten um ein schönes Grab(mal).
Und man hoffte nur zu sehr darauf, dass man ein anständiges Leben geführt hatte. Denn am Schluss wartete entweder der Garten Eden – das Paradies – oder die Hölle. Und wenn man den Abbildungen Glauben schenken mag, so will man den Teufel nicht persönlich kennenlernen. Nachvollziehbar sind daher die Hoffnungen auf ein Paradies. So schliesst die Ausstellung ab. Der Körper, das Paradies, das Martyrium, all dies wurde im Mittelalter verehrt. Die Vorstellung, dass alles einmal war und nicht mehr sein wird, ist heute wie damals beängstigend.
Die Ausstellung «begehrt, umsorgt, gemartert» lässt einen in eine Zeit eintauchen, welche man nie erleben wird. Um ehrlich zu sein: Man will diese Zeit erst gar nicht erleben. Das Landesmuseum schafft es dennoch, eine Faszination für sie zu wecken. Je länger man sich in der Ausstellung aufhält, je länger man die Bilder, Bücher und Bildschirme betrachtet, desto offensichtlicher wird, dass die Menschen im Mittealter nicht so viel anders gedacht haben wie wir heute. Körper wurden und werden damals wie heute gepflegt und genau betrachtet. Der Körper ist dabei mehr als nur eine Hülle, welche es dem «Geist» ermöglicht, zu gedeihen. Er ist Ausdruck unserer Gefühle, Teil unserer Gedanken und schon im Mittelalter Objekt, das es zu kontrollieren und zu optimieren galt. Wer die Ausstellung über Körper im Mittelalter besucht, wird garantiert mit anderen Augen auf den Körperkult von heute blicken und sich von neuem mit seinem eigenen Körperbild auseinandersetzen. Allein schon dafür lohnt sich der Gang ins Landesmuseum.
Die Ausstellung „begehrt. umsorgt. gemartert. Körper im Mittelalter“ ist noch bis am 14.07.2024 im Neubau des Landesmuseums Zürich anzusehen. Mehr Infors zur Ausstellung unter https://www.landesmuseum.ch/begehrt-umsorgt-gemartert