Als er nach Zürich kam, war er umstritten. Nun tritt er als arrivierter Renaissance-Spezialist ab. Der eben emeritierte Zürcher Professor Bernd Roeck über die Bürokratie nach der Bologna-Reform, die Zukunft seines Lehrstuhls, die Rolle von HistorikerInnen in der Öffentlichkeit – und seine Pläne nach der Pensionierung.
etü: Herr Roeck, Ihre Abschiedsvorlesung ist gehalten, Ihre Zeit an der Uni ist aber noch nicht ganz vorbei. Was wird das Letzte sein, das Sie an der UZH machen?
Aufräumen und Bücher aussortieren. Meine Büchersammlung ist mit den Jahrzehnten immer grösser geworden. Jede Station meiner Uni-Karriere findet sich in meinem Berg an Büchern wieder. Begonnen habe ich 1980 als Assistent in München, danach ging es nach Augsburg, Bonn und Italien. Einen Teil der Bücher werde ich wegschmeissen, ein paar nehme ich mit, den Rest verschenke ich an Mitarbeitende, Studierende und an die Bibliotheken. Ganz vom Uni-Geschäft verabschiede ich mich aber noch nicht. Ich habe noch Doktorierende, die ich die zwei Jahre betreue.
Ist der Abschied von der UZH schwer?
Im Augenblick bin ich sehr glücklich darüber, weil ich nun viele unangenehme und zeitraubende Dinge hinter mir habe. Ich kann mehr für mich machen und mal wieder mit dem Hund spazieren gehen. Ich weiss natürlich nicht, wie ich das in ein, zwei Jahren sehen werde. Der Abschied ist jedenfalls ein tiefer Einschnitt, der mich nicht nur bei der Abschiedsvorlesung getroffen hat.
Haben Sie schon irgendwelche Pläne? Viele Leute entscheiden sich ja im Ruhestand, noch ein Projekt zu lancieren – ein neues Buch zu schreiben zum Beispiel.
Mit einem Verlag in München, mit dem ich schon lange zusammenarbeite, sind Gespräche über Nachfolgeprojekte im Gange. Das Privileg von uns Hochschullehrern ist ja, dass wir immer weitermachen können. Ich sagte neulich in meiner Abschiedsvorlesung: Wir sind zwar Lehrende, aber grundsätzlich immer Lernende. Ich habe immer noch so viele Bücher nicht gelesen.
«Es gab einmal eine Zeit, da habe ich gesagt: Ich will unbedingt in Italien leben, notfalls als Gemüsehändler»
Und wie sieht die Zukunft Ihres Lehrstuhls aus?
Er geht den Weg vieler Lehrstühle: Es gibt ihn nicht mehr und es wird eine Assistenzprofessur geben.
Was heisst das genau?
Die Leistung der Dozierenden wird nach drei und nach sechs Jahren überprüft. Danach können sie die Stelle auf Dauer haben. Ein Stück weit ist das Nachwuchsförderung – das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass nun ein Schub von Assistenzprofessuren kommt und dann wohl lange nichts mehr. Wenn die Professorinnen und Professoren gut sind, ist das recht, aber wenn sie nicht ganz so gut sind, kriegt man sie nicht mehr los, weil sie keine Rufe anderswohin erhalten. Auch für die Studierenden hat diese Entwicklung Vor- und Nachteile. Es kommen frische, dynamische Personen mit neuen Ideen. Es gibt aber auch junge Forscherinnen und Forscher, die sich mehr auf ihre Forschung als auf die Lehre fokussieren.
Apropos Nachwuchs: Wie kamen Sie eigentlich zur Geschichte?
Ich bin mehrgleisig gestartet, habe Politikwissenschaft, Soziologie und anderes ausprobiert. Ich würde jedem empfehlen, es ähnlich zu machen. In den ersten Semestern habe ich immer nebenher als Journalist gearbeitet. Mir schien am Schluss dann einfach Geschichte das umfassendste Fach. Ein anderer Grund, warum mir Geschichte so gefiel, war, dass sich das Fach im Zwischenbereich von Wissenschaft und Schriftstellerei bewegt. Ich bin ein Schreiberling.
Wissen Sie noch, wie ihr erster Tag als Professor an der Uni Zürich war?
Zunächst mal hatte ich das Problem, einen Schlafplatz zu finden. Ich bekam als Deutscher rasch mit, wie teuer hier alles ist und so habe ich anfangs in verschiedensten Unibleiben gewohnt. Einmal war ich sogar mit drei Studenten in einer etwas schmuddeligen WG an der Sonneggstrasse. Aber es war trotzdem eine wunderbare Zeit.
Was hat Sie 1999 überhaupt nach Zürich gebracht?
Ich hatte die Wahl. Ich hätte am Comersee bleiben können als Leiter der Villa Vigoni, eines italienisch- deutschen Zentrums für europäische Exzellenz. Aber Zürich ist eine wunderbare Stadt und die Bedingungen waren hier einzigartig im Vergleich zu ausländischen Universitäten. In Zürich waren damals nicht alle begeistert. Schon wieder ein Mann, wurde gesagt. Der «Tages Anzeiger» titelte «Gockel vom Sockel» und es stand, der Bonner Ordinarius würde nur vorbeischauen und dann wieder auf sein Landhaus in der Toskana verschwinden – das ich aber nicht besitze.
«Mein Urteil über Bologna ist vernichtend»
Aber Sie haben eine Affinität zu Italien?
Das erste Mal in Italien war ich als Schüler auf der Abiturfahrt. Damals ging es nach Rom. Seither hat mich das Land immer mehr fasziniert. Es gab eine Zeit, da sagte ich: Ich will unbe-dingt in Italien leben, notfalls als Gemüsehändler. Ich war dann auch dauernd dort und es entstanden immer mehr Beziehungen. Deshalb konnte ich es immer mehr zum Ort meines Berufs machen. Ich war vier Jahre in Venedig und drei Jahre am Comersee, immer mit sehr interessanten Aufgaben.
Hier in Zürich haben Sie dann die Bologna-Reformen hautnah miterlebt. Wie stehen Sie heute dazu?
Da ich von 2009 bis 2011 Dekan war, kenne ich das Geschäft relativ gut. Mein Urteil über Bologna ist vernichtend, zumindest was unsere Fächer betrifft. Wir hatten früher eine Kommission namens KAFA (Kommission für Anerkennung fremder Ausweise). Es gab jeweils etwa dreissig Fälle pro Semester, wovon zwei bis drei kontrovers waren. Diese haben wir in ein paar Stunden aufgearbeitet und dann war Schluss. In Bologna-Zeiten habe ich endloses Diskussionen erlebt, zum Beispiel welche Vorlesung an einer anderen Universität wie viele Punkte gibt. Die Durchlässigkeit ist geringer geworden und der bürokratische Aufwand gigantisch. Ich kann heute nicht mehr einfach Studierende in mein Seminar aufnehmen, wenn sie die Anmeldefrist um eine Stunde verpasst haben. Früher war so etwas selbstverständlich. Klar, das ist nun das Lamento eines alten Hundes, der sowieso in die Rente geht. Aber ich war immer gegen diese überspitzen und ausgefeilten Bologna-Regelungen.
«Unser Fach sollte mehr im politischen Diskurs mitmischen. Wir haben etwas zu sagen»
In Ihrer Abschiedsvorlesung sprachen Sie über das Bild von Historikerinnen und Historiker in der Gesellschaft. Wie wird das Ihrer Meinung nach in Zukunft aussehen?
Unsere Stellung in der Gesellschaft wird wesentlich davon abhängen, wie wir uns öffentlich artikulieren und zu welchen Themen wir uns äussern. Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn wir abgelegene Themen diskutieren. Oft ist es ja so, dass eine Thematik sich als äusserst interessant herausstellt, die zuerst langweilig erschien. Aber ich finde, dass unser Fach im politischen Diskurs mitmischen sollte. Wir haben etwas zu sagen, wir haben uns öffentlich zu äussern. Die Gesellschaft gibt schliesslich viel Geld für uns aus.
Seit 2005 betreuen Sie auch den Master of Advanced Studies in Applied History.
Bei der Lancierung von Applied History haben wir genau das gesagt: Wir müssen die «Big Topics» machen. Wie entstehen Revolutionen? Wie kam es zur Globalisierung? Was ist grosse Geschichtsschreibung? Welche Lehren können wir aus der Geschichte ziehen? Wie weit können wir Prognosen geben?
Sie sprechen von der «grossen Geschichte». Denken Sie, der Fokus am HS sollte mehr darauf liegen?
Naja. Viele Themen wie etwa die vergleichende Revolutionsforschung kann man als Einzelner gar nicht behandeln. Das kann man nur mit einem Aufgebot an SpezialistInnen machen. So machen wir es im Master of Advanced Studies in Applied History. Da laden wir Gastdozierende ein. Auch ein grosses Historisches Seminar wie unseres kann solche Themen nicht allein behandeln. Aber man kann durchaus versuchen, sich in Seminaren mit Studierenden den wirklich wichtigen Themen zu widmen und die Geschichte in ihrem Nutzen für die Gegenwart zu zeigen. Das geschieht zum Teil auch in Überblicksvorlesungen. Von diesen könnte das HS mehr machen.
«Den Eurozentrismus-Vorwurf muss ich heftig bestreiten»
Welche Forschungsschwerpunkte haben denn für Sie sonst noch Potential?
Ich denke, dass ein globalgeschichtlicher Zugriff zukunftsträchtig ist. Ich selbst habe erst spät damit begonnen, da es dafür eine gewisse Erfahrung braucht. Ich bin denn auch prompt in einer Rezension meines neuen Buches von der Historischen Zeitschrift als eurozentrisch gerügt worden. Aber ich werde nicht lange dagegen argumentieren. Wenn ich wissen will, warum Europa bis ins 19. Jahrhundert erfolgreich war in Technik, Wissenschaft und Ökonomie – denn das war es ja: erfolgreicher als andere Teile der Welt –, ist es doch nicht illegitim zu fragen, warum das so war. Solche Fragen kann man doch ohne Scheu vor politischer Korrektheit diskutieren. Wenn ich Gründe für den Weg des «Westens» erforsche, sage ich weder, dass die Entwicklung zwangsläufig so verlief, noch behaupte ich, daß die westliche Moderne die beste Variante sei.
Was halten Sie denn vom Vorwurf, dass Sie eurozentrisch seien?
Ich muss das heftig bestreiten. Es gibt zwei oder drei Rezensionen, die mir das vorwerfen. Darauf habe ich bereits gewartet – es ist ein Standardvorwurf, der einem um die Ohren gehauen wird. Man muss halt damit leben. Mit vielen Kolleginnen und Kollegen hatte ich sehr fruchtbare Diskussionen. Sie halfen mir auch, Fehler zu vermeiden.
Letzte Frage: Wenn Sie wählen könnten, wie man Sie in Zukunft portraitiert, würden Sie eine Büste oder ein Porträt haben wollen?
Keines von beiden: Ich will ein schönes Buch schreiben, das noch möglichst lange gelesen wird. Das ist wohl das, was sich die meisten von uns erhoffen: So lange gelesen zu werden wie Jacob Burckhardt mit seiner Cultur der Renaissance. So als Kopf auf einer Briefmarke sehe ich mich kaum (lacht).