Etü abroad – Nothing to lose in Toulouse

Gassen der Altstadt von Toulouse.

Streikende Franzos*innen, eine mittelmässige Uni, mitunter Kakerlaken in Wohnheimen und weshalb ich die Stadt trotzdem vermisse.

Genau zur richtigen Zeit sei ich in der Stadt angekommen. Gerade einmal Ende der letzten Woche sei der grosse, regionale Streik der Müllabfuhr beendet worden, der seit Mitte Dezember angedauert hatte. Mein Tag der Ankunft: der 17. Januar. Zuvor habe es in den Strassen bereits grauenhaft zu stinken begonnen und die Ratten seien zahlreicher denn je geworden, sagte mir der Uber-Fahrer während unseres Weges vom Bahnhof zum Stadtzentrum. Lachend drehte er sich zu mir auf der Rückbank und sagte: «In anderen Ländern streikt man, um zu leben. Wir leben, um zu streiken.» Wir sprachen ansonsten nicht sehr viel: Nur ein weiterer kurzer Kommentar seinerseits, dass ich offenbar gerade den Höhepunkt der Omikron-Welle in Okzitanien miterleben würde.

Noch traute ich mich nicht richtig allzu viele Sätze auf Französisch zu sprechen. Zu gross die Angst davor, einen Satz zu beginnen, den ich vielleicht nicht zu beenden wüsste. Seit dem Ende der Kanti hatte ich keine Französischklasse mehr besucht. Meine Sorge galt in jenem Moment ohnehin mehr der Schlüsselübergabe für mein Zimmer im Studierendenwohnheim. Hektisch ging ich all das gleich benötigte Vokabular in meinem Kopf durch, stellte bereits die Sätze im Kopf zusammen und googelte allfällige Wissenslücken. Bald erreichten wir auch meine Residenz, die Cité universitaire de l’Arsenal. Kurz bevor mich der Fahrer ablud, fragte er mich noch, weshalb ich die Stadt eigentlich besuchte. Auf meine Antwort, dass ich an der Université Jean Jaurès studieren würde, kommentierte er nur knapp: «Die streiken zur Abwechslung auch mal nicht?» Student*innenenstreiks… der Ton ist gesetzt.

Wenigstens keine Kakerlaken

Kurz nachdem ich mein Zimmer betreten hatte, überkam mich eine Panikattacke. Es lag nicht am Raum selbst: Wenn auch nicht sonderlich gross, so ist es verhältnismässig sauber und ordentlich. (Wobei das Lavabo aber noch in derselben Nacht kaputt gegangen ist.) Auch war es nicht die mürrische Ungeduld des Portiers und der Verwalterin. Nein, in jenem Moment, als ich erstmals diesen Raum gesehen hatte, erschien mir mein Austausch erstmals real. Und die Realität war erdrückend. Ich weiss nicht, wie lange ich auf dem Boden gelegen bin. Irgendwann wurde mir jedoch wieder bewusst: Ich hatte keine Zeit hierfür. Meine Wohnung musste eingerichtet werden. Ich hatte keine Bettwäsche, keine Teller, kein Besteck und auch keinerlei Toilettenpapier. Ich raffte mich auf und schleppte mich aus dem Zimmer, aus dem Gebäude und tatsächlich: Sobald ich die neun Quadratmeter meines neuen Zuhauses verlassen hatte, atmete ich freier. Ich konnte mich wieder in die Illusion des Touristen flüchten, der lediglich die Stadt erkundet.

Mein Wohnblock bei Nacht. Ein bisschen Trist, aber während meines halben Jahres dort habe ich eine sentimentale Hassliebe dazu entwickelt.

Mit jedem Tag, den ich in meiner neuen Wohnung verbrachte, gewöhnte ich mich aber mehr daran und lernte sie zu schätzen. Zudem hatte es mich weitaus besser getroffen als viele Austauschstudierende: Andere Residenzen waren bei weitem nicht so zentral gelegen und sauber wie meine. Einige Freund*innen in der Residenz Chapou lebten in renovierungsbedürftigen Blocks – nicht selten gemeinsam mit Kakerlaken. Am luxuriösesten hatten es aber diejenigen, welche das Risiko auf sich genommen hatten, sich in der Stadt eine WG zu suchen. Dafür sind auch die Mietpreise mit etwa 500-600 Euro doppelt so hoch.

Verschulte Uni

Unweigerlich verglich ich die Université Jean Jaurès mit der UZH, als ich diese am nächsten Tag kennenlernte. Auch wenn diese beiden eigentlich nicht zu vergleichen sind. Das für mich gewohnte Hauptgebäude der UZH stammt aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts, während Jean Jaurès erst anfangs der 2000er von Grund auf neuerbaut worden ist. So dauerte es mehr als eine Woche, bis ich mich mit meiner neuen Uni etwas angefreundet hatte. Ohnehin würde ich nicht sehr viel Zeit dort verbringen: Ich hatte zwei Seminararbeiten aus der Schweiz im Gepäck. Von der Stadt und dem Umland wollte ich ja zudem auch etwas sehen. Deshalb buchte ich nur wenige Kurse. Dies würde sich als weise Entscheidung erweisen, denn französische Bachelor-Seminare waren mein persönlicher Albtraum: Viereinhalb Stunden, praktisch reiner Frontalunterricht, während Studierende hektisch mitschreiben. Für meine Konzentrationsspanne sind bereits die 90 Minuten in Zürich eine Herausforderung, aber satte zwei Stunden bis zur ersten Pause… unmenschlich. So ist es zwar schade, dass ich mich niemals vollkommen in die Campus-Kultur integrieren konnte, aber ich habe das bei weitem kleinere Übel gewählt.

La Douceur de vivre

Stattdessen erkundete ich immer mehr die Stadt. Beinahe täglich ging ich in Cafés, kaufte Bücher (die französischen Preise befeuerten beides) und spazierte in der wundervollen Altstadt aus rotem Backstein, besuchte den Place du Capitole und blickte von der Pont Neuf auf die Garonne. Mindestens wöchentlich besuchte ich das Kino und ging mit anderen Erasmusstudent*innen in Restaurants und Bars. Dabei machte es die Uni selbst nicht sonderlich einfach, Leute kennenzulernen – so etwas wie ein Buddy-System gab es nicht, sondern nur einen einzigen Einführungsmorgen – aber die Erasmus-Vereinigung glich das ansatzweise aus. Alle meine Freundschaften haben sich entweder so ergeben oder durch die sofortige Austauschstudierenden-Solidarität in den Uni-Kursen.

Gruppenbild mit anderen Austauschstudierenen.

Streiks erlebte ich jedoch keine mehr. Dafür regelmässig Demonstrationen: Dies reichte von wöchentlichen Kundgebungen im Stadtzentrum bis hin zu einer Rede von Jean-Luc Mélenchon während des Präsidentschaftswahlkampfes.

Und in diesem Sozialleben ausserhalb der Universität erlebte ich auch endlich das warme und offenherzige Frankreich. Die Woche vor meiner Ankunft habe ich in Paris verbracht und deshalb bereits die Hoffnung aufgegeben, jemals freundliche Franzos*innen kennenzulernen. Doch in den Cafés in Toulouse habe ich erstmals ein Lächeln erhalten und wurde ernsthaft gefragt, wie es mir heute geht. Gerade hier ist allen das Madame Bovary (ein Teahouse, das gleichzeitig ein Büchergeschäft ist) und das Peacock (die besten Pancakes der Stadt) zu empfehlen.

Ersticke das Heimweh im Kinosessel

Und je länger ich in Frankreich lebte, desto wohler fühlte ich mich hier. So widersprüchlich es klingen mag, sobald ich eine Routine, einen Alltag gefunden hatte, fiel es mir leichter mich auf das Ungewisse und Neue der Erfahrung einzulassen. Sogar die von vielen anderen Austauschstudierenden beschriebene «Zero Fucks Mentality» hat sich in mir zeitweise entwickelt: Zwei Monate nach meiner Ankunft, habe ich mir ein Tattoo stechen lassen. Wie ein Rebell begann ich Lichtsignale am Zebrastreifen zu ignorieren. Sogar in einem Chor habe ich mich angemeldet. Auch mit dem Französisch lief es zusehends einfacher; immer flüssiger kam mir die Sprache über die Lippen. Was hatte ich schliesslich zu verlieren?

Aussicht auf die Pont Saint-Pierre mit der Kuppel des Hôpital La Grave im Hintergrund.

Natürlich überkam mich von Zeit zu Zeit das Heimweh. Wann immer dies geschah, versuchte ich ins Kino zu gehen – wieder machten es mir hier die französischen Preise einfach. Auch die vielen internationalen Freundschaften versüssten mir die Zeit in Toulouse. Diejenigen, die mich kennen, wissen wie unwahrscheinlich das ist, aber zu meinen engsten Freundschaften aus Frankreich gehören einige US-Amerikaner*innen. Und zwischendurch bin ich auch zurück in die Schweiz gekommen: Auch das ist okay. Ein Austauschstudium bedeutet nicht unbedingt, dass man dem Leben zuhause völlig entfliehen muss.

Das Fernweh nach dem Heimweh

Würde ich wieder nach Toulouse in den Austausch gehen? Kurz nach meiner Rückkehr hätte ich diese Frage wohl noch mit einem Nein beantwortet. Damals hatte ich zwar immer noch eine tiefe Zuneigung für die Stadt, aber gleichzeitig auch langsam genug von Frankreich. Nun ist es beinahe ein halbes Jahr her und ich muss zugeben: Für die Uni gilt dieses Urteil immer noch. Aber die Stadt Toulouse fehlt mir. Die freundlichen Menschen, die Altstadt und natürlich der tägliche Spaziergang über die Garonne, die Pont Neuf hin zur Metro… die Cafés, die Museen und natürlich allem voran, meine geliebten Pancakes des Peacock’.

Etü abroad Rating

Uni
★☆☆☆☆
Zu lange und zu verschulte Kurse. Ausserdem in den meisten Seminarräumen weder WLan- noch Netzempfang. Die meisten Leute sind aber freundlich. Leider keinen einzigen Streik miterlebt.

Freizeit
★★★★☆
Supergute/-günstige Restaurants, Bars und Cafés. Als Student*in gibt es oft gratis Eintritte für Museen. Ansonsten ist es maximal ein symbolischer Betrag. Alle sehenswürdigen und/oder grossen Städte der Region sind schnell erreichbar.

Wohnen
★★☆☆☆
2.5 Sterne. Unschlagbar günstiger Preis, dafür ein russisches Roulette bei der Zimmervergabe. Bei privaten Vermieter*innen wird es aber schnell mindestens ein 3/5.