Eine feministische Chemikerin kämpf für den Frieden

Die junge Gertrud Woker (Bild: First Hand Films)

Belächelt, klein gehalten, marginalisiert: Noch im 20. Jahrhundert hatten es Frauen in der Schweiz sehr schwer, sich in der wissenschaftlichen Forschung durchzusetzen. Das musste auch die Chemikerin Gertrud Woker erfahren, die trotz ihrer bedeutenden Forschung und ihres pazifistischen und feministischen Engagements heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Ein kürzlich erschienener Dokumentarfilm will das nun ändern.

«Wir Frauen fordern eine völlige Neugestaltung der Welt. Es ist soziale Ungerechtigkeit, die zu Krieg führt.» – Mit diesem kämpferischen Zitat der Protagonistin beginnt der Dokumentarfilm «Die Pazifistin – Gertrud Woker: Eine vergessene Heldin» der zwei Filmemacher Fabian Chiquet und Matthias Affolter. Neben Wokers Grossneffe Martin Woker kommen darin die zwei Historikerinnen Franziska Rogger und Gerit von Leitner zu Wort, die sich beide intensiv mit Gertrud Wokers Leben auseinandergesetzt haben.

Er wisse fast nichts über seine Grosstante Trudi, erfahren wir von Martin Woker. Er habe sie nie persönlich getroffen und in seiner Familie sei immer nur erzählt worden, Tante Trudi sei nicht ganz richtig im Kopf. In hohem Alter sei sie schliesslich in einer Nervenheilanstalt gestorben. Wie kam es zu dazu? Anhand von Archivbeständen wie Briefen und Zeitungsartikeln rollt der Film das bewegte Leben Wokers auf.

Genial, aber mittellos

Gertrud Woker, geboren 1878 in Bern, war 1903 die erste Frau in der Schweiz, die im Fach Chemie promovierte: Mit summa cum laude in allen Fächern, was auch bei ihren männlichen Kollegen nur selten vorkam. Nur vier Jahre später habilitierte sie und leitete anschliessend viele Jahre ein kleines Labor an der Universität Bern. Daneben verfasste sie verschiedene Bücher, darunter ein vielfach beachtetes und bis heute relevantes Standardwerk zur Katalyse in der Chemie. Schon früh engagierte sie sich neben ihrer Forschungstätigkeit politisch und war aktiv in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Sie war sich der Verantwortung der Wissenschaft in Zeiten von Weltkriegen bewusst und warnte mehrfach vehement vor den Gefahren von Giftgas für Kriegseinsätze. Daneben forderte sie bereits in der Zwischenkriegszeit das Wahlrecht für Frauen.

“ Erst 1933 wurde sie auf Druck ausländischer Wissenschaftler zur Ausserordentlichen Professorin ernannt, erhielt jedoch keinen dementsprechend höheren Lohn oder ein grösseres Labor.“

Die Schwierigkeiten des Lebens als Frau in der Wissenschaft zeigt der Film eindrücklich. Trotz ihrer guten Leistung im Studium und obwohl sie anscheinend für ihre Fähigkeiten anfangs durchaus Respekt erhielt, kämpfte Woker jahrelang erfolglos um eine Beförderung. Zahlreiche erhaltene Briefe an die Universität zeugen davon, dass sie die Universitätsleitung geradezu anflehte, ihr mehr finanzielle Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Forschung zu gewähren. Erst 1933 wurde sie auf Druck ausländischer Wissenschaftler zur Ausserordentlichen Professorin ernannt, erhielt jedoch keinen dementsprechend höheren Lohn oder ein grösseres Labor. Ihre Forschungstätigkeit wurde dadurch empfindlich ausgebremst, viele Ideen und Projekte konnte sie nicht umsetzen. Sie kämpfte ausserdem ihr ganzes Leben privat mit finanzieller Not. Dass sie diese Nachteile aufgrund ihres Geschlechts erhielt, legt der Film zumindest nahe.

Der Kampf für den Frieden

Was ihrer Karriere aber noch deutlich mehr geschadet zu haben scheint, war Wokers politisches Engagement. Nicht einverstanden mit der etablierten Idee der Wissenschaft, die Natur verstehen zu wollen, um sie zu beherrschen, setzte sie sich für ein anderes Verständnis von Wissenschaft ein und stellte sich entschieden gegen deren Instrumentalisierung für militärische Zwecke. Ihr Kampf gegen den Einsatz von Giftgas wurde ihr aber im Kontext der Zwischenkriegszeit als unpatriotischer Verrat am Vaterland und Unterminierung des Wehrwillens angelastet. Der Film spielt hier geschickt mit Zitaten hoher Militärvertreter, die Woker aufgrund ihres Engagements diffamierten und sogar ihren Ausschluss von der Universität forderten. Auf einer Reise mit der Internationalen Frauenliga in die USA, wo Woker ebenfalls Reden gegen Aufrüstung und Krieg hielt, wurde sie regelrecht bedroht und musste die Reise frühzeitig abbrechen.

„Das Klischee der hohen weiblichen Emotionalität hatte männlichen Forschern schon seit Jahrhunderten als Rechtfertigung gedient, Frauen aus der Wissenschaft auszuschliessen.“

Wokers mehrfache Beteuerung, sie sei nicht gegen die Landesverteidigung, sondern nur gegen die Massenvernichtungswaffen, verhallte weitgehend ungehört. Durch ihre pazifistische Tätigkeit verlor sie sogar mehr und mehr ihre wissenschaftliche Anerkennung. Der Chemikerin wurde vorgeworfen, ihre Emotionen hätten ihren wissenschaftlich-neutralen Blick getrübt. Das Klischee der hohen weiblichen Emotionalität hatte männlichen Forschern schon seit Jahrhunderten als Rechtfertigung gedient, Frauen aus der Wissenschaft auszuschliessen. Frauen stünden einer objektiven Wissenschaft durch ihre Nähe zur Natur sogar diametral entgegen. Eine Frau in ihren Reihen konnte die Wissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts wohl gerade so akzeptieren. Eine Frau aber, die die tradierten Normen der Wissenschaft in Frage stellte, wurde mit allen Mitteln unterdrückt.

Abgeschoben und vergessen

Gertrud Wokers Kritiker*innen gingen so weit, die Chemikerin als geistig verwirrt und unzurechnungsfähig darzustellen. Eine weitere verbreitete Methoden, zu forsche und eigenständige Frauen zu diskreditieren und aus der Öffentlichkeit zu entfernen. Woker wurde schliesslich Verfolgungswahn attestiert und sie verbrachte ihre letzten Lebensmonate in einer psychiatrischen Klinik. Inwieweit die Krankheit von der Öffentlichkeit konstruiert war oder ob Woker ihren politischen Überzeugungen tatsächlich neben ihrer Karriere auch ihre Gesundheit geopfert hat, muss der Film aufgrund der verschlossenen Krankenakte unbeantwortet lassen.

Gertrud Wokers Leben sei ein Kampf gewesen, meint Martin Woker zum Schluss der Dokumentation. Ein Kampf, der sie letztlich die ihr zustehende wissenschaftliche Anerkennung kostete. Gemäss dem Film klagte Woker anfangs noch über ihre geopferte Karriere, befand ihre politischen Überzeugungen aber schliesslich als wichtiger. Es bleibt zumindest zu hoffen, dass ihr durch diesen neuen Film nachträglich der verdiente Respekt für ihren mutigen Einsatz und ihre forscherische Tätigkeit zuteilwird.

Infos zum Film gibt es auf: Die Pazifistin | Film (die-pazifistin.ch)
Gemietet und gestreamt werden kann der Film hier: Die Pazifistin – Gertrud Woker: Eine vergessene Heldin – Streaming: Jetzt Film online schauen. (cinefile.ch)