David Graebers Piraten: ein «kleines Experiment in Sachen Geschichtsschreibung»

Bild: DALL·E, Open AI.

Seeräuberromantik? Ja, aber mehr als das: David Graeber verfolgt in seinem Buch Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit die Ursprünge der Aufklärung bis in die freibeuterischen Häfen Madagaskars.

Auf den Schiffen von Pirat*innen herrschte eine radikale Gleichheit: Die Kapitän*innen wurden von der Besatzung gewählt (und abgewählt), man etablierte an Bord ein System der ausgleichenden Gegenkräfte (Schiffsrat) und eine Kultur der Diskussion, die Verteilung der Beute oder die Entschädigungen bei Verletzungen waren vertraglich klar geregelt. Da sich auf diesen Schiffen Menschen mit verschiedenstem Hintergrund einfanden, entstand diese Art der Verwaltung notgedrungen. Um in Kürze einen Umgang zu finden und damit eine funktionierende Crew aufzustellen, hat man sich auf eine Politik der Partizipation gestützt, was diese Orte zu «perfekten Laboratorien für demokratische Experimente» gemacht hat. Dies ist die Ausgangslage für die Argumentation in David Graebers letztem Buch Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit, welches im Januar 2023 posthum auf Deutsch erschien. Der populäre Anthropologe, bekannt als Exponent der Occupy Wallstreet Bewegung und als Vertreter der anarchistischen Linken, legt darin ein weiteres Puzzlesteinchen in seinem Projekt vor, welches zeigen will, dass die Geschlossenheit und die Genialität der europäischen Aufklärung eine rassistische Fiktion sind. Stattdessen sei die Geistesgeschichte des Westens geprägt von diversen Einflüssen und damit weit über Europa hinaus verflochten. Und auch jene, die den für Europa enorm profitablen globalen Seehandel attackierten, haben daran mitgeschrieben. Graeber hält fest: Der holzbeinige Bukanier war genauso eine Figur der Aufklärung, wie dies Voltaire oder Adam Smith waren.

Pirat*innen auf Madagaskar

Das Buch untersucht «eine Reihe von Revolutionen», welche an der Ostküste Madagaskars von der Ankunft tausender Pirat*innen ausgelöst wurden. Diese waren am Ende des 17. Jahrhunderts aus der Karibik vertrieben worden, liessen sich anschliessend auf Inseln des südwestlichen Indiks nieder und brachten dabei auch ihre Konventionen der Gemeinschaft mit. In drei Teilen versucht der Autor, der Ende der 80er-Jahre in der Region Feldforschung betrieb, zu skizzieren, was sich dort abgespielt hat. Mit der Absicht der «Entkolonisierung der Aufklärung» untersucht er, wie sich die lokale Bevölkerung und die Neuankömmlinge zusammenschlossen haben und daraus ein gesellschaftliches Experiment mit Strahlkraft bis nach Europa entstanden sein soll.
Das Betsimisaraka-Bündnis, von madagassischen Politiker*innen in Zusammenarbeit mit den Pirat*innen gegründet, spielte dabei eine wichtige Rolle. Es habe durch die Verbindung von freibeuterisch geprägten Vorstellungen der Machtverteilung und egalitären Elementen der traditionellen politischen Kultur Madagaskars eine Konstellation erlaubt, die als «protoaufklärerisch» zu betrachten sei.
Graebers Schilderungen zu den Vorkommnissen auf Madagaskar sind oft überraschend und faszinierend. So geraten beispielsweise unbestritten geglaubte Vorstellungen von monarchischer Souveränität ins Wanken: Der Autor beschreibt, wie die madagassische Monarchie damals zwar oft in Überfluss und Pracht lebten (auch dank unverkäuflicher Pirat*innenbeute), jedoch gleichzeitig keinerlei Macht über das Leben ihrer Untertanen hatten. Auch das landläufige Bild über Seeräuber muss überdacht werden, wenn im Buch erklärt wird, dass die Pirat*innen, obwohl oft betrunken und immer bewaffnet, praktisch nie gewalttätig aneinandergerieten. Solche Erklärungen erzeugen jene Verblüffung und Anziehungskraft, von denen das Buch in weiten Teilen lebt.

Wenige Quellen – viele offene Fragen

Gleichzeitig bleibt die Quellenbasis sehr mager und undurchschaubar, wie auch der Autor zugeben muss: «Wenn mehrere Berichte zu ein und demselben Ereignis vorliegen, widersprechen sie einander in der Regel» (S.66). Vieles bleibt unklar und an einigen Stellen versucht Graeber die Leerstellen mit kreativen, bisweilen spekulativen, Annahmen zu überbrücken. So beispielsweise beim letzten Schritt seiner Argumentation: Lässt sich beweisen, dass die Berichte über die progressiv-egalitäre Politik auf Madagaskar in Europa zur Kenntnis genommen wurden? Es wäre die Bedingung, um auf eine direkte Einflussnahme dieser «demokratischen Experimente» auf das politische Bewusstsein in den Salons und Kaffeehäusern von Paris, Edinburgh und Königsberg zu schliessen. Indem er auf die weite Verbreitung von Erzählungen über Pirat*innen verweist, vermutet Graeber, dass Personen wie Montesquieu und die Enzyklopädist*innen schon in ihrer Kindheit mit Geschichten über Freibeuter*innen konfrontiert wurden. Zudem sei das Thema in jener Zeit besonders unter der gebildeten Schicht auf viel Aufmerksamkeit gestossen. Die Annahme, dass die französischen Aufklärer*innen von Berichten über Pirat*innen inspiriert wurden, scheint zwar plausibel, bleibt aber eine Hypothese.
Ungeachtet dessen ist das Buch in weiten Teilen spannend und unterhaltsam zu lesen. Vieles wird in der Einleitung vorweggenommen, in den drei grossen Kapiteln folgen dann Ausführungen, die stellenweise etwas gar detailliert und langatmig erscheinen. Die Aufteilung in kurze Unterkapitel hilft aber dabei, die Übersicht nicht zu verlieren.

Bild: DALL·E, Open AI.

Kritik an der aktuellen Geschichtswissenschaft

Indem er ihr einen eingeschränkten Blick auf den internationalen Handel und auf «lokale Eliten» vorwirft, will Graeber die gegenwärtige Geschichtsschreibung ausdrücklich provozieren. Ob dies gelingt, bleibt offen. Doch werden sich viele Fachpersonen an seinem Umgang mit den Quellen stören und ihm ihrerseits eine allzu ungenierte Arbeitsweise vorhalten. Trotzdem ist die Argumentation in weiten Teilen schlüssig und der Autor hält fest, was vielen glaubwürdig erscheinen wird: Die Vernetzung der Welt hat schon in der frühen Neuzeit zu einem Austausch von Ideen geführt. Und dieser verlief deutlich vielseitiger als lange angenommen wurde. Mit diesen spannenden Erkenntnissen kontrastiert David Graeber ältere Erzählungen, die «nicht nur zutiefst fehlerhaft und eurozentrisch, sondern auch unnötig ermüdend und langweilig sind».

Literatur:
Graeber, David: Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit, Stuttgart 2023.