Angehaltene Zeit in Kisten

Arbeit im Archiv: Die Schwarz-Weiss-Negative werden auf dem Leuchtpult mit detektivischer Genauigkeit unter die Lupe genommen. © Ricabeth Steiger.

Regelmässig rückt er alte Bilder in neues Licht: Aaron Estermann betreut das Pressebildarchiv des Schweizerischen Nationalmuseums. Vier bis sechs Millionen Bilder aus den vergangenen hundert Jahren werden dort von ihm verwaltet: Negative, Abzüge und Diapositive stapeln sich deckenhoch. Im Interview haben wir ihn gefragt, ob er eher Schatzhüter oder Detektiv ist – und weshalb seine Arbeit politisch ist.

Das Pressebildarchiv des Schweizerische Nationalmuseum besteht aus den Bildern der beiden Pressebildagenturen Actualités Suisses Lausanne, ASL (1954-1999) und Presse Diffusion Lausanne, PDL (1937-1973). Die thematischen Schwerpunkte der ASL lagen bei der Bundespolitik, dem Sport und der Westschweiz, wo sie als die wichtigste Pressebildagentur galt. Den Schritt ins digitale Zeitalter machte die Agentur aber nicht mehr mit. Beide Bildbestände wurden 2007 beim Schweizerischen Nationalmuseum aufgenommen. Geschah dies mit weinenden oder lachenden Augen?

Aaron Estermann: Für den Gründer der ASL, Roland Schlaefli, und seine Frau Christiane Schlaefli gab es da sicher weinende Augen, weil die Agentur nach seiner Pensionierung unter anderem wegen der fortschreitenden Digitalisierung von niemandem weitergeführt wurde. Aber was die Aufnahme des Agenturarchivs in die Sammlung des Schweizerischen Nationalmuseums betrifft, gab es sicherlich auch lachende Augen. Schliesslich war dies das Lebenswerk der beiden und das Museum bot dafür eine Anschlusslösung. Ausserdem sorgen wir dafür, dass zumindest ein Teil des Bestands digitalisiert wird, Schritt für Schritt. In diesem Sinn erfährt der Bestand doch noch den digitalen Wandel.

Das digitale Bild: Fluch oder Segen?

Segen. Für ein analoges Archiv ist die Digitalisierung heute der Weg, die Bilder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das gehört zu unserem Auftrag dazu.

Unzählige Variationen eines Ereignisses: Auf diesem digitalen Kontaktabzug von Bildern der ASL ist zu sehen, wie Queen Elizabeth II. mit Prinz Philipp am 29. April 1980 am Flughafen Zürich-Kloten empfangen wird. © Schweizerisches Nationalmuseum / ASL.

Deine Arbeit: Detektiv oder Schatzhüter?

Detektiv. Im Archiv liegen laut Schätzungen vier bis sechs Millionen Bilder und wir greifen punktuell, je nach internen und externen Anfragen, auf das Archiv zu – zum Beispiel für Ausstellungen, Publikationen und Filme. Wir nehmen nur die Bilder heraus, die dafür relevant sind. Ich suche und recherchiere viel eher, als dass ich als Hüter davorstehe und den Zugriff womöglich noch verhindere.

Dieses Farbdiapositiv dokumentiert, wie Elizabeth II. und Bundespräsident Chevallaz die Ehrengarde am Flughafen Zürich-Kloten abschreiten. © Schweizerisches Nationalmuseum / ASL.

Deine Lieblingsbilder: Farbig oder schwarz-weiss?

Farbig. Ich verstehe den Reiz von schwarz-weiss, die Reduktion auf Formen und Kompositionen. Gerade bei unserem Archiv ist es aber so, dass die Schwarz-Weiss-Bilder vorrangig als Negativfilm gelagert sind und bei der Recherche deshalb erst durch eine Übersetzung zugänglich werden. Die Farbbilder sind meistens als Farbdiapositive, sogenannte Umkehrfilme, vorhanden, die bereits bei der Entwicklung zu einem Positiv geworden und somit leichter zugänglich sind. Ich glaube auch, dass Farbe lebendiger ist und die Geschichte näher an uns heranbringt. Schwarz-Weiss-Bilder schauen wir oft mit einer historischen Brille und das Gezeigte als weit entfernte Vergangenheit an.

Auch beim Zunfthaus zur Meisen, wo Elizabeth II. und Prinz Philipp von Zünftern begrüsst werden, sind Fotgrafen anwesend. © Schweizerisches Nationalmuseum / ASL.

Der Blick zurück: Nostalgie oder Lehrmeister?

Weder noch. Und wenn, dann eher Lehrmeister. Auch wenn ich nicht glaube, dass die Geschichte eine Lehrerin ist. Vielmehr können wir schauen, welche Antworten auf ähnliche Fragen in anderen Epochen gegeben wurden und uns dann entscheiden, was wir heute für uns in Betracht ziehen. In der Fotografie allerdings ist der nostalgische Blick sehr nah. Das fotografische Bild ist angehaltene Zeit – doch oft vergessen wir das Drumherum und betrachten es als isolierten Moment, ohne Kontext. Daher kommt auch das Gefühl, früher sei alles besser, idyllischer gewesen.

Das fotografische Bild ist angehaltene Zeit – doch oft vergessen wir das Drumherum.“

Der Weg der Bilder ins Archiv: Überschaubar oder undurchschaubar?

Für uns überschaubar: Die Pressebildagenturen ASL und PDL sandten jeweils einen Fotografen aus, um ein politisches Ereignis oder einen Sportevent zu fotografieren. Die belichteten Filme brachten oder schickten sie zurück in die Agentur. Dort wurden einzelne Abzüge hergestellt und an die Medien weitergeleitet, meist inklusive kurzen Pressetexten. Im Falle der PDL gleich mit ganzen Reportagen. Die Negative landeten in beschrifteten Couverts im Firmenarchiv. Es bleibt aber undurchschaubar, welcher Fotograf – die meisten Pressefotografen waren männlich – welches Bild tatsächlich aufgenommen hatte, weil meist nur die Agentur als Urheberin vermerkt wurde.

Handbeschriftete Couverts der Pressebildagentur PDL in der Sammlung des Nationalmuseums. Die Couverts enthalten Schwarz-Weiss-Negative, die 6 x 6 cm messen.

Deine Arbeit: Politisch oder unpolitisch?

Politisch. Einerseits, weil die Anfragen ans Archiv darauf abzielen, Vergangenes wieder ins Bewusstsein zu rücken und damit aus meiner Sicht politische Entscheide getroffen werden. Andererseits wähle ich selbst mit aus, welche unserer vier Millionen Bilder schliesslich digitalisiert werden. Damit habe ich einen direkten Einfluss auf das Gezeigte und agiere auch politisch.

Anfragen ans Archiv zielen darauf ab, Vergangenes wieder ins Bewusstsein zu rücken. Damit wird ein politischer Entscheid getroffen.

Dein Werdegang: Kindheitstraum oder Zufallsweg?

In dieser Auswahl Zufallsweg. In den Freundschaftsbüchern habe ich als Kind immer Traumberuf «Skifahrer» geschrieben. Im Geschichtsstudium habe ich dann begonnen, mich für museale Arbeit zu interessieren. Anschliessend habe ich vor allem mit Film und Fotografie gearbeitet. Jetzt bin ich an einem Ort, an dem ich beides kombinieren kann.

Mehr Aussagekraft: Ein Bild oder tausend Worte?

In Bezug aufs Archiv: Tausend Worte. Ohne beschriftete Couverts und Pressetexte hätten wir keine Chance, mit den Bildern etwas anzufangen. Wir sind also auf Text angewiesen. Aber auf einer emotionalen Ebene kann ein Bild oftmals schneller berühren. Am Schluss ist die Kombination von Bild und Text entscheidend für das Potential des Archivs.

Aaron Estermann hat Geschichte, Medienwissenschaft und Visuelle Kommunikation studiert und betreut das Pressebildarchiv des Schweizerischen Nationalmuseums. Ausserdem schreibt auf dem Blog des Schweizerischen Nationalmuseums über bedeutendes Bildmaterial aus dem Pressebildarchiv. Seine Beiträge gibts hier zu lesen. Hast du Lust darauf, mit dem Bestand des Pressebildarchivs des Nationalmuseums die nächste Seminararbeit zu schreiben? Hier kannst du weiterstöbern oder dich mit einer Rechercheanfrage bei Aaron Estermann melden.