«Historische Reenactments sind keine Kriegsspielerei»

Nur der Scheinwerfer im Hintergrund verrät, dass die Szene gestellt ist: Steven an einem Anlass im belgischen Bastogne. Bild: zvg

Steven, 34, nimmt in seiner Freizeit als amerikanischer Soldat an Reenactments zum Zweiten Weltkrieg teil. Hier erklärt er, wie er sich gegen die Schubladisierung seines Hobbys wehrt – und weshalb eine amerikanische Uniform bequemer ist als eine Wehrmachtsuniform.

Das Militär und alles, was damit zu tun hat, haben mich schon immer fasziniert. Spätestens, seitdem ich als Kind die historischen Militärfahrzeugparaden im Fricktal miterlebte, wusste ich, dass ich selber einmal ins Militär möchte. Dass es gerade der Zweite Weltkrieg ist, der mich besonders fasziniert, hat einen familiären Hintergrund: Mein Urgrossvater war Wehrmachtsangehöriger. Er kämpfte zuerst in Nordafrika und später Stalingrad, wo er schliesslich auch fiel. Wegen ihm begann ich, mich mit dieser historischen Epoche zu befassen. Was ursprünglich also eine Nachforschung zu meiner Familiengeschichte war, weitete sich zu einer allgemeinen Faszination für diese Zeit aus, die mich bis heute nicht losgelassen hat: Die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg ist immer präsent bei mir. Wenn ich den Haushalt mache, läuft immer eine Doku oder auch ein Podcast im Hintergrund, in dem zum Beispiel Kriegstagebücher vorgelesen werden.

Die Teilnahme an Reenactment-Events ist also nur ein Teil meiner umfassenden Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg. Am liebsten sind mir jene Events, die von Militärmuseen organisiert werden: Im Vergleich zu privaten Treffs von Reenactment-Vereinen sind solche Anlässe offen für Besucher und es steht der Anspruch im Vordergrund, das ganze Setting bis ins kleinste Detail hinein historisch akkurat darzustellen. Manchmal gehe ich alleine an solche Events, meistens aber mit einem Grüppchen von Bekannten aus der Living-History-Szene. Am Vorabend laden wir alles in unseren Bus ein und fahren am nächsten Tag in aller Frühe los. Auf dem Platz angekommen, stellen wir unser Camp. Wenn wir mehrere Tage bleiben, stellen wir unsere Militärzelte auf, in denen wir uns einrichten. Wir schlafen nicht etwa auf modernen Campingmätteli, sondern auf echten Feldbetten und in Originalschlafsäcken der amerikanischen Armee. Sobald alles aufgestellt ist, ziehen wir unsere Uniformen an. Unser Ziel ist, dass unser Camp und auch wir möglichst historisch akkurat aussehen, sobald die ersten Besucherinnen und Besucher am Event auftauchen. Sie sollen einen authentischen Eindruck davon bekommen, wie ein militärisches Camp damals ausgesehen hat. Auch die Geräuschkulisse soll stimmen: Über einen Lautsprecher lassen wir zeitgenössische Musik laufen, Radio oder Kriegsberichterstattung. Zwischendurch führen wir Patrouillen durch, wobei wir auch hier darauf bedacht sind, richtig zu marschieren und dass die Uniform korrekt sitzt. Ein mir persönlich sehr wichtiger Teil des Events ist der Austausch mit den Besucherinnen und Besuchern und das Beantworten ihrer Fragen – zu unserem Equipment, zu Historischem, aber auch zu unserem Hobby. Es ist mir ein grosses Anliegen, dass ich diese Fragen gut beantworten kann. Ich sehe mein Hobby durchaus mit einem gewissen Bildungsauftrag verbunden. Auch deshalb lege ich einen grossen Wert auf Authentizität. Ich mag es nicht so, wenn man an diesen Anlässen mit einer Bierbüchse auf dem Gelände herumspaziert und das Reenactment nur halbbatzig durchzieht.

«Mal jemand anderes sein, als ich sonst bin»

Am Abend, wenn die Besucherinnen das Gelände verlassen haben, ist die Situation eine andere. Dann steht das Lagerleben im Vordergrund. Hier sind sich Privat- und Museumsanlässe sehr ähnlich: Wir sitzen ums Feuer und kochen unser Abendessen auf unseren Benzinkochern. Authentisches «Zweit-Weltkriegs-Essen» in diesem Sinne gibt es nicht. Die Soldaten assen damals vor allem Militär-Notrationen. Diese bestanden aus in Büchsen eingeschweisstem Rindfleisch oder auch Brot und sind heute in dieser Form nicht mehr erhältlich. Bei uns gibt es ein einfaches Essen: ein Stück Fleisch und Teigwaren, oder eine Wurst und ein Stück Brot. Am Abend ist es auch nicht mehr so tragisch, wenn nicht alles akkurat ist und mal eine Packung Zweifel-Chips auf dem Tisch liegt.

Diese Lagerfeuerromantik und das Kameradschaftliche geben mir viel. Häufig sinnieren und philosophieren wir bis spät in die Nacht hinein. Und trotzdem: Am nächsten Tag stehen wir immer um 6.00 Uhr auf. Da legen wir grossen Wert drauf. Hier denke ich mir auch: Die Soldaten hatten damals häufig auch nicht mehr Schlafenszeit als zwei Stunden. Dieses Nachleben einer vergangenen Zeit erlaubt mir ein totales Ausklinken aus dem Alltag. Ich lege mein Handy weg und kann abschalten. Ich muss mich nicht um Tageszeit und Wochentag kümmern und beschränke mich auf das Wesentliche. Wenn ich Hunger habe, kann ich keinen Döner bestellen und wenn es kalt wird, kann ich nicht einfach die Heizung hochstellen. Man merkt, wie kreativ man sein kann, wenn man nicht direkt den Fernseher anstellen kann, wenn einem langweilig ist. In diesem Lagerleben kann ich mal jemand anderes sein, als ich sonst bin.

Und trotzdem: Einen «Alter Ego» aus dieser Zeit habe ich nicht. Ich bin auch im Camp weiterhin Steven und habe keine neue Person erfunden. Dass ich einen englischen Vornamen habe, passt natürlich zu meiner Rolle als amerikanischer Soldat. Ich benutze im Camp jenen Rang, den ich selbst im Militär hatte. Leider gibt es da in der Szene auch durchaus andere Tendenzen: Es gibt Leute, die sich selbst möglichst hohe Ränge geben und mit möglichst vielen Abzeichen und Orden herumspazieren, einfach, weil das schick aussieht. Da kann es schon mal vorkommen, dass in einer Gruppe von zehn Leuten zehn eine Offiziersuniform tragen. Die einfachen Soldaten von damals kommen leider oft zu kurz an solchen Events.

«Historische Quellenrecherche ist unabdingbar»

Die Biografien von Soldaten aus dieser Zeit faszinieren mich. Erst kürzlich habe ich von einem Sammler eine Originaluniform eines amerikanischen Soldaten erworben. Dieser Sammler hat viel Nachforschung zum ursprünglichen Besitzer der Uniform angestellt und sogar beim US-amerikanischen Verteidigungsministerium die entsprechenden Akten angefragt. Ich habe Fotografien von diesem Soldaten und kenne seinen ganzen Lebenslauf: Er hat im Ersten und Zweiten Weltkrieg und später im Koreakrieg gedient und hatte im Vietnamkrieg schliesslich ein Kommando im Stab inne. In allen Kriegen hat dieser Mann Auszeichnungen erhalten.

Für mich ist die Auseinandersetzung mit solchen Soldaten-Biografien ein wichtiger Teil meiner Recherchen, die ich anstelle, um mich optimal auf neue Reenactment-Anlässe vorzubereiten. Nebst der Lektüre publizierter Biografien recherchiere ich auf historischen Foren nach Tagebucheinträgen von Soldaten, die mir Aufschluss über den Kriegsalltag geben: Dieser bestand ja nicht nur aus den grossen Schlachten, über die wir heute bestens Bescheid wissen, sondern auch aus langwierigem Abwarten dazwischen. Es interessiert mich, wie die Soldaten diese Zeit verbracht haben. Was machten sie in ihrer Freizeit? Wie gingen sie mit dem Gedanken um, die nächste Schlacht vielleicht nicht zu überleben? Welche persönlichen Gegenstände waren ihnen besonders wichtig? Für die Beantwortung solcher Fragen können auch Fotografien aufschlussreiche Quellen sein. Besonders wertvoll sind historische Schnappschüsse, die von den offiziellen Militärfotografien abweichen. Hier sieht man, wie die Soldaten ihre standardisierte Ausrüstung um persönliche Gegenstände ergänzt haben. Diese historische Quellenrecherche sehe ich als unabdingbaren Teil meines Hobbys an.

«Leute, die aus der Reihe tanzen, gibt es überall»

An den Anlässen sind immer auch Wehrmachts-Reenactmentgruppen präsent. Es gehören schliesslich beide Parteien zum Krieg dazu. Der Anteil alliierter Soldaten ist aber immer höher als der Anteil Wehrmachtssoldaten. Das hat ganz unterschiedliche Gründe: Es liegt einerseits schon nur daran, dass es einfacher ist, an Alliiertenmaterial zu gelangen, als an Original-Wehrmachtsmaterial. Zweitens wirken die amerikanischen Uniformen auch optisch cooler: Sie sind lässig geschnitten und nicht so stier wie die deutschen Uniformen, die als unbequem gelten, weil sie alle aus Wolle sind. Die amerikanischen Uniformen im Gegensatz dazu waren oftmals aus Baumwolle und sind deshalb angenehmer zu tragen. Ein weiterer Grund ist natürlich auch die Symbolik der Wehrmacht, die für viele Menschen weiterhin schwierig ist. Auch wenn das Tragen solcher Uniformen mit Hakenkreuz an diesen Events erlaubt ist, schreckt die Symbolik viele Menschen ab. SS-Uniformen sieht man dementsprechend eher selten, aber auch das kommt vor. Dass es in der Wehrmachts-Reenactment-Szene sicher auch Menschen gibt, die rechtsextremes Gedankengut vertreten, möchte ich nicht abstreiten. Ich persönlich habe es aber noch nie erlebt. Im Gegenteil: In meiner Erfahrung setzt sich die Wehrmachts-Living-History-Szene oftmals besonders vertieft mit der Geschichte auseinander. Es gibt ganz vereinzelt Exoten an unseren Events, die den-Hitlergruss-machend über das Gelände spazieren. Das passiert vor allem am Abend, wenn die Leute aus dem Bierzelt laufen. Wenn ich so etwas beobachte, sage ich meistens nichts. Ich denke mir einfach meinen Teil. Leute, die aus der Reihe tanzen, gibt es schliesslich immer und überall.

Bevor ich an einen Anlass gehe, recherchiere ich immer zum Hintergrund des Veranstalters. Das mache ich insbesondere dann, wenn es ein Wehrmachts-Reenactment-Verein ist, der zu einem Event einlädt. Ob der Veranstalter seriöses, historisches Reenactment macht oder aber eine Gruppe ist, die Rechtsextremismus propagiert, findet man relativ einfach mit ein paar Clicks heraus. Es ist mir wichtig, zu wissen, mit welchen Leuten ich mich an solchen Events umgebe. Sollte ein Event mal eskalieren, möchte ich nicht im Hintergrund irgendwelcher Medienfotos zu sehen sein. Während ich mich also klar von rechtsextremen Gruppen distanziere, möchte ich klarstellen, dass ich seriöse Wehrmachts-Reenactment-Gruppen sehr begrüsse. Denn die Living-History soll möglichst nahe an die historischen Tatsachen herankommen. Die Wehrmacht gehört nun mal genauso zum Krieg wie auch die Alliierten. Solange Reenactment in einem neutralen Rahmen und ohne Verherrlichung geschieht, sehe ich unsere Rolle als eine aufklärerische und nicht eine kriegsverherrlichende.

«Reenactment hat nichts mit Gewaltverherrlichung zu tun»

Dass viele Leute uns sofort in eine Schublade stecken, weil es bei uns um Uniformen und Waffen geht, finde ich schade. Die Trennlinie zwischen Gewaltverherrlichung und historisch wertvollem Reenactment liegt für mich im Umgang mit dem Material: Wenn man planlos auf dem Gelände rumläuft, mit der Waffe auf andere Menschen zielt und ein Abschiessen simuliert, ist das für mich ein absolutes NoGo. Das wäre dann «Kriegsspielen» und da gäbe ich jedem Recht, der uns vorwirft, Gewalt zu verherrlichen. Unseren Umgang mit Waffen und Uniformen empfinde ich aber eher wie in einem Museum: Wenn ich meine Waffensammlung an einen Event mitnehme, liegen die Pistolen entschärft auf einem Tisch als Betrachtungsgegenstände und sind in ein informatives Setting eingebaut, weil ich ja viel über diese Waffen weiss und auch gerne erkläre. Wenn an Events Gefechte simuliert werden, dann ist das keine Rambo-Action. Im Gegenteil: Das ist dann ein bis ins letzte Detail koordiniertes Schauspiel, das auf Grundlage historischer Informationen zur Opferzahl und Gefechtsaufstellung einstudiert wird. Natürlich ist das für die Zuschauer aufregend und unterhaltend mitanzusehen. Es ist aber auch eine Erinnerung an die Tragik der damaligen Ereignisse, die uns ins Gedächtnis ruft, wie viele Menschen bei solchen Begegnungen ums Leben gekommen sind.

Geschichte nachgespielt: zu den Begriffen «Reenactment» und «Living History»
Unter «Living History» wird die Darstellung historischer Welten durch Personen verstanden, die ihre Kleidung und Gebrauchsgegenstände möglichst realistisch der dargestellten Epoche anpassen. «Reenactment» ist ein Teilbereich der Living History, wobei hier konkrete historische Ereignisse mit Anspruch auf höchstmögliche Authentizität nachgestellt werden. Vom sogenannten «Live Action Role Playing» (LARP), das auf Improvisation beruht, und im Histotainment-Bereich angesiedelt ist, grenzt sich die Living History mit ihrem Anspruch auf höchstmögliche Authentizität ab. Während die Living-History teilweise von Historiker:innen als «keimfreie» Darstellung historischer Ereignisse kritisiert wird, werden Reenactment-Gruppen gleichzeitig auch wissenschaftlich in der experimentellen Archäologie eingesetzt.

Leider verstehen das nicht alle. Ich wurde auch schon angefeindet auf Social Media, nachdem ich ein Bild gepostet hatte. Ein anderes Mal warf mir eine Mutter, die mit ihren zwei Söhnen einen Anlass besuchte, Gewalt- und Waffenverherrlichung vor. Ich erkläre den Menschen mein Hobby gerne, aber dieses Gespräch verlief derart heftig, dass ich es irgendwann abbrechen musste. Zum Glück haben die meisten Event-Besucherinnen und -Besucher viel Freude an dem, was wir machen. Ein besonders schönes Erlebnis war die Teilnahme an einem Event im belgischen Bastogne, das jedes Jahr das Jubiläum seiner Befreiung mit einem grossen Reenactment-Anlass feiert. Die ganze Stadt ist dann voll mit Panzern, Uniformen und historischem Equipment. Man wähnt sich wirklich im Jahr 1944. Hier hat mich mal ein Mann unter Tränen angesprochen, weil er die amerikanische Einheit, die wir nachspielten, wiedererkannte: Es war genau jene Einheit, die damals seinen Urgrossvater aus dem Konzentrationslager befreit hatte. In solchen Momenten sind sich Geschichte und Reenactment dann besonders nahe und das berührt mich.

«Die Living-History-Szene hat ein Nachwuchsproblem»

Der «Convoy to Remember» in Birmenstorf, ein Reenactment- und Militärfahrzeug-Anlass, der mich als Kind schon geprägt hat, wurde vor zwei Jahren zum letzten Mal durchgeführt; die Organisatoren sind in den Ruhestand getreten. Die Reenactment-Szene hat sicher ein Nachwuchsproblem; das Durchschnittsalter ist hoch. Das liegt zum einen Teil auch daran, dass Living-History im Bereich Zweiter Weltkrieg ein Hobby ist, das teurer geworden ist: Vor 30 Jahren bekam man beispielsweise schon für ein paar Tausender einen historischen Willys-Jeep. Heute haben die einen Sammlerwert von mehreren zehntausend Franken. Auch für mich ist es ein teures Hobby: Für eine historische Uniform zahlt man locker ein paar hundert Franken und da sind die Kosten fürs Umschneidern noch nicht einmal miteinberechnet. Für meine Sammlung zu Hause, die aus historischen Waffen, Uniformen und weiterem Equipment besteht, habe ich mehrere zehntausend Franken ausgegeben.

Auch wenn Frauen sehr willkommen wären, bleibt die Reenactment-Szene eine Männerszene. Wenn Frauen an den Events anwesend sind, dann sind sie meistens als Begleiterinnen ihrer Partner dabei und kaum als voll ausgerüstete Soldatinnen, die das Hobby selbst aktiv betreiben. Ich denke, das Thema Militär und Waffen ist auch heute noch für Männer attraktiver als für Frauen. Für meine Freundin kann es schon mal nervenaufreibend sein, einen Kriegsfilm mit mir zu schauen: Ich muss dauernd analysieren und bemerken, wenn historische Details nicht korrekt umgesetzt wurden. Deshalb kann ich auch mit Hollywood-Filmen nicht so viel anfangen: Sie geben häufig ein glorifiziertes Bild vom Krieg wider. Deshalb sind mir Zeitdokumente oftmals lieber. Wenn ich trotzdem meinen Lieblingsfilm nennen müsste, würde ich deshalb einen nennen, der gleichzeitig auch ein Zeitdokument ist: Es wäre The Great Dictator von Charlie Chaplin.