Menschen am HS: «Ich will mich nicht auf Hilfe verlassen müssen»

Bild: Simon Pflugshaupt

Von den fünf Sinnen ist im Geschichtsstudium das Sehen wohl der wichtigste. Trotzdem studiert Lorenz mit Sehbehinderung. Wie erlebt er die Uni?

Vielleicht sollte ich mit der Krankheit anfangen. Ich habe Retinopathia pigmentosa. Das ist eine genetische Augenkrankheit, wegen der ich schon immer schlecht gesehen habe. Zum Beispiel wusste ich in der Primarschule lange nicht, dass die anderen Mitschüler:innen den Text auf der Wandtafel tatsächlich lesen konnten. Ich dachte, sie müssten wie ich bei 50 bis 60 Prozent der Buchstaben raten, was da steht. In der Sek wurde es auch nicht besser. Schliesslich habe ich eine KV-Lehre in der Immobilienbranche gemacht.

Während der Lehre wurde die Sicht in meinem linken Auge so schlecht, dass ich regelmässig Unfälle hatte. Beim Augenarzt hat sich herausgestellt, dass ich langsam erblinde. Auf dem linken Auge sehe ich heute fast nichts; auf dem rechten ein bisschen besser. Deshalb musste ich eigene Strategien und Techniken für den Schulalltag entwickeln. Beispielsweise lerne ich viel besser durch Zuhören als durch Mitschreiben. Nach meiner Lehre habe ich die Berufsmatur und die KME gemacht, so bin ich dann an der Uni gelandet.

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich mich immer für Geschichte interessiert. Vor dem Studium hatte ich aber ein bisschen Angst, dass das viele Lesen für meine Augen zu schwierig sein würde. Trotz der Herausforderungen des Geschichtsstudiums habe ich glücklicherweise nie die Motivation verloren. Auf dem rechten Auge sehe ich genug, um die meisten Texte lesen zu können. Ich lese aber mit einem Stift in der Hand, sonst verrutsche ich andauernd. Tabellen sind wegen der grossen Abstände sehr viel schwieriger zu entziffern. Wenn ich erschöpft bin, verschwimmt mein ganzes Blickfeld. Manchmal muss ich mein schlechtes Auge abdecken, um mich konzentrieren zu können. Ich versuche deswegen, nicht sehr lese-intensiv zu arbeiten oder nutze Vorleseprogramme. Bei der mündlichen Prüfung für den Bachelor habe ich deshalb bewusst Bücher mit Audioversionen gewählt.

Tatsächlich ist der tägliche Weg an die Uni einer der schwierigsten Teile des Studiums. Die vielen Leute machen mir zu schaffen. Ich bin schon mit dem Blindenstock unterwegs, aber die Leute achten nicht immer darauf. Es hat häufig keine Ampeln, die bei Grün Lärm machen, und zudem viel Verkehr. Ich bin auch nachtblind, deswegen ist es im Dunkeln für mich noch schlimmer. Module wähle ich möglichst so aus, dass ich schonend pendeln kann. Es bringt nichts, wenn ich um acht Uhr morgens im Hörsaal schon so erschöpft bin, dass ich gar nichts mitbekomme. Ich will meinen Alltag allein meistern können. Hilfe nehme ich gerne entgegen, aber ich will mich nicht darauf verlassen müssen. Ich wohne auch allein und mache den Haushalt selbst. Das muss alles neben dem Studium in den Tag hineinpassen.

Der Nachteilsausgleich der Uni ist ein grosser bürokratischer Aufwand. In jedem Semester muss ich mich neu dafür anmelden. Ich bekomme dann nur eine Empfehlung, die Fakultäten müssen sich nicht daran halten. Jedes Mal muss ich auch alle Kurse angeben, die ich im Semester mache – weiss die Uni das nicht selbst?

In meinem Nebenfach Geografie hilft mir der Nachteilsausgleich trotzdem sehr. Ich kann vieles mündlich machen, was schriftlich schwierig oder unmöglich wäre. Für Geschichte ist er weniger relevant. Die Dozierenden sind aber super und gehen meistens auf meine Bedürfnisse ein. Dass ich mehr Zeit für Abgaben bekomme, ist sehr wertvoll. Bei Prüfungen hilft die persönliche Betreuungsperson, die mir zum Beispiel Grafiken erklären kann. Doch insgesamt sehe ich noch Verbesserungspotenzial. Die Uni arbeitet daran; ich nehme an den Abklärungen zur Verbesserung der Uni-Accessibility teil. Es muss sich noch zeigen, wie viel sich dann tatsächlich verändert.

Momentan schreibe ich an meiner Bachelorarbeit über den Aufstieg des Winterthurer Baumwollhandels im 18. und 19. Jahrhundert. Es läuft gut, aber der Umgang mit gewissen Quellen ist schwierig. Ohne Transkribus, eine Software zur Transkription historischer Handschriften, hätte ich manche Dokumente nicht verwenden können. Nach dem Bachelor mache ich eine halbjährige Weiterbildung für Blinde. Später möchte ich hier in Zürich den Master absolvieren. Über die Zeit danach mache ich mir noch nicht zu viele Gedanken.