«Volkskrieg» und «Vernichtungshaft» – Ein kommunikationsgeschichtlicher Exkurs in die Blütezeit der Roten Armee Fraktion

Bild: http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1977-38.html

Wir schreiben den 18. Oktober 1977. Die Stimmung in Deutschland ist angespannt, seit Wochen schon. In den Zeitungen gibt es nur ein Thema: Alles dreht sich um die Rote Armee Fraktion (RAF). Mal geht es um ihre terroristischen Aktionen, mal um mutmassliche Sympathisanten, mal um die Tatsache, dass viele bürgerlich erzogene Frauen zu ihrer Führungsriege gehören. Die deutsche Regierung unter Helmut Schmidt befindet sich in einer Zerreissprobe. Die Medien unterliegen einer staatlich verordneten Selbstzensur – sie sind voll von Mutmassungen, Anschuldigungen und staatlich gestreuten Falschmeldungen.

Mogadischu, Stammheim, Mühlhausen

Und nun folgen ebenjene Stunden, die dereinst als Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen der Bundesrepublik und der RAF in die Geschichte eingehen werden.

Erster Schauplatz: Mogadischu, fünf Minuten nach Mitternacht am 18. Oktober 1977. Die fünf Tage zuvor von einem palästinensischen, mit der RAF kooperierenden Terrorkommando entführte «Landshut»-Maschine der Lufthansa wird von einer Spezialeinheit der deutschen Polizei gestürmt. Drei der vier Entführer werden bei der Aktion getötet, alle entführten Passagiere überleben. Die Bundesrepublik atmet auf. Und Bundeskanzler Helmut Schmidt vernichtet das Rücktrittschreiben, dass er für den Fall eines missglückten Befreiungsversuchs vorbereitet hatte.

Zweiter Schauplatz: Stuttgart-Stammheim, am Morgen danach. Im berühmt-berüchtigten Gefängnis werden Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen aufgefunden. Ihre Selbstmorde markieren das Ende der ersten RAF-Generation. Ulrike Meinhof hatte sich schon im Jahr zuvor in ihrer Zelle erhängt. Der kollektive Freitod wird von RAF-Anhängern bis heute immer wieder angezweifelt, auch wenn mehrere Obduktionen in der Folge Fremdeinwirkungen ausgeschlossen haben.

Dritter Schauplatz: Mühlhausen im Elsass, am 19. Oktober 1977. Die Leiche von Hanns Martin Schleyer wird im Kofferraum eines Audi gefunden. Die zweite Generation der RAF hatte den deutschen Arbeitgeberpräsidenten sechs Wochen zuvor trotz extremer Sicherheitsmassnahmen gefangen genommen und seine Ermordung in kämpferischen Ultimaten immer wieder angedroht. Der Versuch, im Austausch gegen Schleyer die in Stuttgart eingesperrten Anführer der RAF freizupressen, war damit endgültig gescheitert.

Die Kommunikation der RAF

Über das Vor- und Nachspiel dieser Geschehnisse wurden viele Bücher geschrieben. Sie widmen sich der Ebene der Ereignisse des sogenannten «Deutschen Herbstes». Diese ist zweifelllos faszinierend, gerade weil die Geschichte der RAF sich zuweilen – und dies nicht zuletzt dank der Stilisierung einiger ihrer Anführer zu einer Art Popikonen des Terrorismus – wie ein sorgfältig inszenierter Thriller liest. Historische Untersuchungen sind lange auf dieser Ebene verharrt. Wer hat wen wann wie umgebracht – manche dieser Fragen sind bis heute noch immer nicht restlos geklärt. Auch die psychologische Disponiertheit von Meinhof, Baader und Co. hat im Verlaufe ihrer Rezeptionsgeschichte nicht wenige fasziniert. Der Versuchung, die terroristischen Taten der RAF aus der Biographie ihrer Anführer herzuleiten, verfallen bis heute viele.

In den letzten Jahren jedoch beginnt sich ein neuer Blickwinkel auf die Geschehnisse des Deutschen Herbstes zu etablieren, derjenige der Kommunikationsgeschichte. Aktionen und Stellungnahmen von terroristischen Gruppen werden dabei nicht zuletzt als kommunikative Ereignisse betrachtet, die sich an Staat und Öffentlichkeit richten und von den Medien nicht nur vermittelt, sondern auch interpretiert und verändert werden.

«Volkskrieg» und «Kriegsgefangene»

Ein Beispiel eines solchen Ansatzes bildet der Blick auf das Kriegsnarrativ, das in der Auseinandersetzung zwischen der RAF und dem Deutschen Staat eine grosse Rolle spielte und verschiedene Konjunkturen erlebte. Im Jahr 1972 sprach die RAF in ihren emotionalen Positionspapieren von einem Krieg, indem sie etwa zum «Volkskrieg» aufrief und das Ende des demokratischen Dialogs forderte. Sie inszenierte sich in diesen Schriften argumentativ als reagierende Partei. Ihre Aktionen präsentierte sie als Antworten auf das Handeln der staatlichen Akteure. Die RAF musste gemäss ihrer eigenen Logik zur Waffe greifen, um einen (erneuten) «imperialistischen Weltkrieg» zu verhindern. Die fatalistische Rhetorik spaltete in ein Dafür und Dagegen, in «Revolutionäre» und «Schleimscheisser», und untergrub Möglichkeiten für Widerspruch und Diskussion.

In den folgenden fünf Jahren bis zu jenem anfangs umrissenen «Deutschen Herbst» hielten die Aktionen der RAF die Bundesrepublik in Atem. Sie waren geprägt von verschiedenen Höhe- und Schwerpunkten, etwa der emotionalen Diskussion um das «Sympathisantentum», oder der Debatte rund um die Haftbedingungen der RAF-Anführer. Gerade im Rahmen dieses zweiten Themas spielte der Begriff des «Krieges» erneut eine wichtige Rolle. Die RAF versuchte medial geschickt, ihre Anführer als politische «Kriegsgefangene» darzustellen, als Opfer von staatlicher «Vernichtungshaft» und «Isolationsfolter». Obwohl sich Staat wie Medien diesen Anschuldigungen generell widersetzten, gelang es der RAF durch ihre grosse Medienpräsenz in dieser Zeit immer häufiger, den öffentlichen Diskurs mit ihrem Vokabular zu prägen.

Die Rhetorik wechselt die Seiten

1977 war der Kriegsbegriff schliesslich eindeutig nicht mehr nur in den Stellungnahmen der RAF präsent. Auch führende Intellektuelle, allen voran der Historiker Golo Mann, sprachen nun von einem «Krieg gegen den Staat», den die Terroristen angeblich führten. Mann diagnostizierte einen gefährlichen «Bürgerkrieg» in der BRD und forderte radikale Massnahmen gegen die Terroristen – durchaus auch ausserhalb der rechtsstaatlichen Grenzen. In der extrem aufgeladenen Stimmung nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer polarisierte diese Rhetorik der Eskalation. Während etwa Erich Böhme sich als Chefredakteur des Spiegel klar gegen eine Verwendung des Kriegsbegriffs wandte und eindringlich vor den Folgen eines solchen Sprachgebrauchs warnte, reihte sich beispielsweise der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer hinter Mann und seiner Sichtweise ein.

Ob sich die Kommentatoren während der Debatte nun für den Begriff des Krieges aussprachen oder ihn zitierten und dann ablehnten – fest steht, dass er nach der Schleyer-Entführung in den deutschen Leitmedien viel Raum einnahm. Und dies war ganz im Sinne der RAF: Ihr gelang es in den 70er Jahren, nicht nur durch ihre Taten, sondern auch durch ihre Sprache immer stärkeren Einfluss auf die Öffentlichkeit der BRD zu nehmen. Der Status als Gegnerin in einem rhetorisch beschworenen «Krieg» vervielfachte die ihr zugeschriebene Wichtigkeit – und ermöglichte es ihr mehr als schon bisher, ihre Gefangenen als politische Häftlinge darzustellen.

Ein sprachlicher Kampf um Bedeutung

Was kann ein solcher, kommunikationsgeschichtlicher Ansatz heute leisten, im vierzigsten Jubiläumsjahr des «Deutschen Herbstes»? Vielleicht führt der Blick auf die Rhetorik des Konfliktes zwischen der RAF, den deutschen Medien und dem deutschen Staat zur wiederkehrenden Einsicht, dass Sprache Wirklichkeit mitprägt. Denn in Bezug auf die Offenheit des gesellschaftlichen Diskussionsraums und auf die Einflussmacht, die einem Phänomen oder einer Gruppe zugeschrieben wird, spielt es eine grosse Rolle, ob nun von einer «Gruppe von Gesetzesbrechern» oder von einer «Kriegspartei» die Rede ist.

Gerade im Spannungsfeld von Gewalt, Medien und Staat ist es bedeutend, mit welcher Sprache agiert und reagiert wird. Und das gilt in Zeiten von rhetorischen Feinheiten wie «fire and fury» kaum weniger als im Jahr 1977.