Und was nützt uns das alles?

Die Zukunft Europas ist ungewiss. Doch das muss nicht Grund zur Besorgnis sein.

Es geht an diesem Abend in der Aula der Universität Zürich um die Verwerfungen des 21. Jahrhunderts. Um Probleme, die längst bekannt sind. Trump, Brexit, Populismus, Islamismus und die vermeintliche Krise der Europäischen Union, ja, um den Niedergang des Westens. Eigentlich alles längst ausgeschlachtete Themen. Doch Andreas Rödder vermag die Gemengelage zu einem Plädoyer zu verweben, das überzeugt.

Eine Geschichte der Gegenwart, wie geht das? Diese Frage hat sich Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte von der Universität Mainz, gestellt. Ja, gute Frage: Wie steht die Geschichte zum aktuellen Weltgeschehen? Was kann sie leisten, um zu einem besseren Verständnis der weltpolitischen Grosswetterlage beizutragen? Genau hier soll Rödders Referat über die «Verwerfungen der Gegenwart» ansetzen. Er beginnt zunächst sehr naheliegend: Er zeichnet die Entwicklung der Europäischen Integration nach, weist auf Problemlagen hin, die nicht vergessen werden dürfen. Gleiches macht er mit den Nachwirkungen des Kalten Krieges und dem Verhältnis der EU zu Russland. Daneben nimmt er die Aufsteigernationen aus Ostasien mit in die Rechnung, ebenso wie den im Chaos versinkenden Nahen Osten. Auf den ersten Blick klare Gegensätze, ein riesiges Spektrum für einen knapp 45-minütigen Vortrag. Doch irgendwie hängt dann alles doch zusammen, und Rödder wird sich dabei letztlich die Frage stellen, wie der Mensch in der Geschichte gegenüber Veränderungen steht. Doch eins nach dem anderen.

Europa, quo vadis?

Die Europäische Union hat im Rahmen der Osterweiterung und der Integrationsbemühungen die letzten dreissig Jahre entscheidend geprägt. Wo früher Belgien, Polen oder auch die Niederlande fürchten mussten, Durchmarschgebiet für militärische Feldzüge der europäischen Grossmächte zu sein, stellen diese Länder heute in enger Verbindung mit dem restlichen Kontinent eine Region der Stabilität dar. Aber wie viel Integration in diese Union dabei gut ist, ist nicht immer ganz klar. Zu viel sei sicherlich nicht gut, eine ever closer union übergehe die zentrale Stärke der EU: Die Nationalstaaten, so die These von Rödder. Denn diese seien agiler und hätten mit weniger bürokratischen Hürden zu kämpfen, wohingegen die EU auf Kompromissen basiere. Entsprechend ist Europa auch kein global player mehr; gemeinsam hält man vielleicht besser, man ist aber nicht zwingend schlagfertiger. Was Rödder von der EU fordert, ist mehr Flexibilität.

Das sei äusserst wichtig, denn das Ende des Kalten Krieges habe unter anderem zwei Aspekte hervorgebracht, die Europa vor grosse Herausforderungen stellen. Einerseits sehe Russland unter Putin die Auflösung der UdSSR als Kränkung, sehne sich nach einer Neuerung alter Verhältnisse – man bedenke den Georgienkrieg von 2008 oder die Annexion der Krim im Jahr 2014. Die Auflösung des Ost-West-Konfliktes habe in Russland eine Sehnsucht geweckt, in anderen Regionen der Welt aber – und hier kommt der zweite Aspekt ins Spiel – neue Freiräume geschaffen, die unerwartete Entwicklungen (im Positiven wie Negativen) befeuert haben. Ostasien beispielsweise boomt, China, Japan und Südkorea weisen hohe Wachstumsraten auf, und das auf Wegen, die man sich im Westen nicht erdenken konnte – als Inbegriff des vermeintlichen Widerspruchs hat China eine sozialistische Politik mit einem kapitalistischen Wirtschafssystem vereint. Im Gegensatz dazu scheinen die Konflikte im im Chaos versinkenden Nahen Osten von Tag zu Tag unlösbarer, Konflikte überlagern sich dort, und u.a. Grossbritanniens Interessen von vor dem Ersten Weltkrieg wirken bis heute nach. Auch hier eine Tatsache, mit der vor etwas mehr als 100 Jahren wohl niemand gerechnet habe, führt Rödder aus.

Von fixen Prognosen und anderen Fehlern

Eine lineare Entwicklung des Aufstieges ist bei weitem kein Automatismus, das zeigen diese beispielhaften Ausführungen. Daher war auch Francis Fukuyama mit seiner These vom «Ende der Geschichte» in den 90er-Jahren falsch. Prognosen nur auf Basis der Erfahrung anzustellen, funktioniert selten. Ausserdem sind selbstbestimmte, auf bekannte Muster fokussierte Prognosen nicht nur fehleranfällig, sondern auch schädlich. Sie verstellen den Blick auf Abweichendes, Unerwartetes. Stattdessen wird eine vermeintliche Sicherheit propagiert, die aber nie in dieser Weise eintritt und daher höchstens für Verunsicherung sorgt.

Diese Unsicherheit führt Rödder schliesslich zur allgemeineren Frage, wie Menschen mit Veränderung umgehen. Dabei stellt er vereinfachend eine Tendenz fest: Angst, dann Abwehr, schliesslich aber Anverwandlung. Neue Technologien beispielsweise scheinen unberechenbar, nicht beherrschbar und daher gefährlich zu sein. Jede Generation habe das Gefühl, in einer Zeit nie dagewesenen Wandels zu sein. Aber eben, die Verhaltensmuster seien stets die gleichen. Aus einer Angst vor Neuem, nicht Beherrschbaren, folgt eine strikte Abwehrhaltung. «Das ist aber keine Zukunftslösung», schliesst Rödder seine Bemerkungen in pragmatischem Ton. Daher hätte der Mensch letztlich keine andere Wahl, als die Neuerungen anzuerkennen und sie sich anzuverwandeln.

Die Zukunft ist doppelt anders

Doch all diese Gedanken, die Rödder in sehr stringenter Weise miteinander verbindet, sind an sich nicht neu. Was nützt uns eine solche Analyse heute? Was kann man aus der Geschichte lernen? Böse Zungen würden die Phrase «Man kann aus der Geschichte nichts lernen» dreschen. Doch das ist nicht Rödders Fazit. Das Gefühl von Beschleunigung und Verunsicherung, wie es häufig thematisiert wird, wie es von Politikern aufgegriffen wird, gebe ein Gefühl der Unberechenbarkeit des Weltgeschehens. Diese Unberechenbarkeit ist schon richtig. Doch anstatt daraus eine Angst herauszulesen, ist Rödder zuversichtlicher: Geschichte ist nicht dazu da, zielstrebig in die Zukunft zu blicken, das kann sie gar nicht. Aber sie kann zeigen, wie die Gegenwart funktioniert. Dabei gebe es aber tatsächlich auch etwas für die Zukunft zu lernen: Erwartungen dürfen nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden, Geschichte ist nicht die Folge des immer Gleichen. «Die Zukunft ist doppelt anders», führt Rödder aus, und sorgt damit für verunsicherte Lacher im Publikum. «Anders als die Gegenwart, und anders als gedacht.» Daher ist es wichtig, für Offenheit, statt für blinde Selbstgewissheit zu plädieren. Denn letzteres bildet unter Umständen die Grundlage für geschlossene Ordnungsentwürfe, verfestigte Rahmen und damit Ausgrenzung. Hier zieht Rödder eine Parallele zum von ihm geforderten Auftrag der Europäischen Union.

Denn, was haben der Teebeutel, die Entdeckung Amerikas und Penicillin mit Rödders Idealbild Europas und der Welt gemeinsam? Sie sind alle ein Resultat von der Offenheit, Neues, Unvorhergesehenes und Ungeplantes ernst zu nehmen und daraus zu lernen: Kurz, sie sind das Resultat so genannter Serendipität. Das ist auch das Rezept, das Rödder für einen Umgang mit den eingangs geschilderten Verwerfungen vorschlägt. Anstatt sich an bekannte Muster zu krallen, und Ideen zu Ideologien zu machen, täte man gut daran, eine flexiblere Haltung anzunehmen.

Das hat aber auch Nachteile, denn der Fokus auf das Ungewisse kann unter Umständen nur allzu schnell als Vorwand hingehalten werden, wenn man nicht mehr weiterweiss. So wird Rödder im Anschluss an sein Referat gefragt, wie er das Verhältnis zwischen Russland, China und den USA einordnen würde, worauf er nach kurzer Erläuterung der Zusammenhänge antwortet, er wolle sich auf keine Prognose festlegen, es komme sowieso anders, man werde eben sehen. Als Experte in den Nachrichten wird er es mit einer solchen Haltung nicht weit bringen. Aber die Erkenntnis, die dahintersteckt, verdient es, genauer betrachtet zu werden.