Sind wir wirklich so unpolitisch?

Gelangweilte Dozierende, leere Seminarräume. Die Verschulung der Unis lässt laut Christiane Florin die Diskussionskultur immer mehr verstummen (Bild: Wikimedia Commons)

Die Studierenden von heute haben den Ruf, abgelöscht und angepasst zu sein. Christiane Florin, Politologin an der Universität Bonn, hat 2014 gar ein ganzes Buch darüber geschrieben – und dafür viel Zustimmung erhalten. Nun, im Zeitalter der Fridays for Future-Proteste, fragen wir sie: Sind wir Jungen vielleicht doch nicht so schlimm?

Die «Jugend von heute» zu kritisieren, scheint zu allen Zeiten en vogue gewesen zu sein. Sokrates enervierte sich bereits im 5. Jahrhundert vor Christus über die «schlechten Manieren» und die Widerborstigkeit der Jugend. Ihre angebliche Faulheit und Unflätigkeit erzürnen seit über 2000 Jahren die älteren Generationen – bis heute. Bei den Generationen X und Y scheint sich allerdings ein neuer Diskurs aufzutun: Wir haben es gut mit unseren Eltern, treffen sie nach dem Auszug in ein elternhausnahes Quartier regelmässig zum Kaffee. Wir arbeiten gerne, solange wir uns dabei genügend selbst verwirklichen können. Unsere Generation scheint gerade in ihrer Angepasstheit auf Widerspruch zu stossen.

Diese Angepasstheit und der Wille, bloss alles richtig zu machen, führte Christiane Florin, Journalistin und Politologie-Dozentin an der Uni Bonn, 2012 in einem vielbeachteten ZEIT-Artikel am Beispiel der Wasserflaschen ihrer Studierenden aus:

«Das Erste, was ich von euch sah, waren diese großen Wasserflaschen aus Plastik. Während einer Doppelstunde Regierungslehre schafften viele von euch locker einen Liter. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass zu meiner Studienzeit während eines Seminars auch nur einer zur Flasche gegriffen hätte. Das hätte wertvolle Redezeit gekostet. Oder, wie man auch zwanzig Jahre nach 68 noch sagte: Zeit, um alles kritisch zu hinterfragen. Ihr aber trinkt über alle autoritären und totalitären Regime, über alle parlamentarischen, semipräsidentiellen und präsidentiellen Systeme hinweg. Auch große Worte großer Menschen, sagen wir von Max Weber und Theodor W. Adorno, stillen euren Durst nicht. Woher der kommt? Vom Diskutieren jedenfalls nicht. Ich hätte fordern können, in Deutschland einen Wächterrat nach iranischem Vorbild einzuführen. Ihr hättet trotzdem weitergenuckelt.»

In ihrem Buch Warum unsere Studenten so angepasst sind doppelte sie 2014 nach: Wasser, das gebe den Studierenden «etwas zum Festhalten, etwas Empfohlenes, etwas Richtiges in einer Welt voller potenzieller Fehler». Diese Angst vor Fehlern äussert sich für Florin im Bedürfnis von Studierenden nach klaren Vorgaben. «Brav habt ihr die Lehrbuch-Kapitel gelesen, die ich euch vor einer Klausur empfahl. Wenn ich die Seiten 21 bis 76 nannte, konnte ich sicher sein, dass niemand Seite 20 oder 77 anschauen würde.» Während alle Vorgaben also brav eingehalten würden, verflüchtige sich jedes zusätzliche Engagement: «Über Rücktritte, Skandale und Untersuchungsausschüsse referieren die angehenden Bachelors mit einer Leidenschaft, als ginge es um den 32. Änderungsantrag der Abwasserverordnung für die ländlichen Gebiete Sachsen-Anhalts.»

Zeit für ein Gespräch

Mittlerweile sind mehrere Jahre vergangen, seitdem ich Christiane Florins Artikel in der ZEIT gelesen habe. Die Aussagen darin verfolgten mich immer wieder, besonders als ich selbst mein Studium an der Universität begann. Sokrates mag sich über das Schwatzen und das Widersprechen der Jugend geärgert haben, doch letztendlich ist es genau das, was für die Erfüllung des akademischen Ideals eines Sokratischen Dialogs vonnöten ist. In den Uniseminaren erlebte ich leidenschaftliche Debatten aber als Seltenheit. In einer Vorlesung scherzte ein Professor über die stummen Studierenden im Vorlesungssaal, indem er sie mit Fischen in einem Fischtank verglich.

«Sind wir vielleicht wirklich so?», fragte ich mich.

Und nun das Jahr 2019: Die Fridays for Future-Bewegung überrascht mit ihrem langen Atem und ihrer Grösse alle ExpertInnen. Viele Jugendliche gehen wieder auf die  Strasse  und üben gehörig Druck auf Politik und Wirtschaft aus. Die Klimafrage verbinden sie oft mit einer fundamentalen Systemkritik – von einer Generation, die Wasser über die Probleme hinwegtrinkt, kann nicht mehr die Rede sein. War Florins Wasserflaschen-Kritik letztlich also nur ein Sturm im Wasserglas? Mit dieser Frage im Gepäck bin ich im Juni zu ihr nach Köln gefahren. Das Gespräch entwickelte sich zu einem über die Grundsätze des universitären Systems, das Florin mindestens so stark kritisiert wie die Haltung der Studierenden.

«Geisteswissenschaft ohne kritische Geister verliert ihre Berechtigung»

etü: Frau Florin, sieben Jahre nach Ihrem berüchtigten Artikel gehen so viele junge Leute für ihre politischen Anliegen auf die Strasse, wie schon sehr lange nicht mehr. So unpolitisch wie Sie es darstellten, sind wir scheinbar doch nicht…

Christiane Florin: Ich kann von mir tatsächlich nicht behaupten, Fridays for Future vorhergesehen zu haben, aber es überrascht mich nicht, dass nun ausgerechnet das Klima ausschlaggebend für neues Engagement ist. 2012  erklärten mir meine Studierenden, ihr Aktivismus bestünde vorwiegend darin, sich bewusst mit dem eigenen Konsumverhalten auseinanderzusetzen. Sie sahen sich also als politisch, weil  ihre Kleider nicht aus Kinderarbeit stammen, aber sie gingen dafür sicher nicht auf die Strasse. Auf Tendenzen gibt es aber immer auch Gegenbewegungen: Die SchülerInnen sind mittlerweile anders. Ihnen reicht der faire Konsum als politische Handlung nicht mehr, sie gehen wieder auf die Strasse. Vielleicht werden Sie dann auch andere Studierende sein. Aktuell habe ich aber noch nicht den Eindruck, dass sich das neue Engagement fürs Klima auch in den Diskussionen meiner Seminare niederschlägt.

Die  Zeit  beschrieb  Sie  in  einem  Interview folgendermassen: «Christiane Florin lehrt Politikwissenschaften an der Uni Bonn und ist genervt von langweiligen Studenten.» Sind Sie nicht eine klassische Verfechterin er Idee, «früher war alles besser»?

Ich fand die Beschreibung etwas überspitzt, ich war nicht «genervt». Ich wollte einfach die aktuelle Situation problematisieren, ohne dafür zu plädieren, wieder zu alten Zeiten zurückzukehren. Meine Aussagen wurden aber tatsächlich oft in eine kulturpessimistische Ecke gestellt. Ich wurde als typische «Woah, die 68er»-Apostelin wiedergegeben und sogar selbst als 68erin bezeichnet. Obwohl ich selbst erst 1968 geboren wurde. Ich finde aber schon, dass die 68er-Generation eine gute Messgrösse ist, um zu beobachten, wie sich der Politikbegriff späterer Generationen entwickelt hat. 2013 war die Anzahl junger Leute, die angaben, sich für gesellschaftspolitische Themen zu interessieren, so tief wie noch nie. Vieles kreist heute um das eigene Leben: Darum, wie man alles auf die Reihe kriegt. Alles andere, was darüber hinausgeht, ist Luxus. Und dieser Haltung hat sich auch unser universitäres System angepasst. In meinem Buch ging es um die erste Generation von Bologna-Studierenden, die eine enorm hohe Leistungsbereitschaft hat und sich dafür vor kontroversen Diskussionen fürchtet.

«Das Studium sollte auch eine Entdeckungsphase sein», meint Christiane Florin. Bild: Antje
Simeon

Inwiefern geht diese Entwicklung von den Studierenden selbst aus und inwiefern sehen Sie den universitären Betrieb – das Bologna-System – als mitschuldig?

Natürlich sind immer mehrere Gründe mitschuldig. Bologna ist Folge und Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Denkweise: Es muss immer alles einen unmittelbaren Nutzen haben. Das Bildungssystem muss auf Effizienz getrimmt werden. Dieses Denken wurde durch das Bologna-System noch verstärkt. Von den Studierenden wird dabei verlangt, dass sie sich in diesem Belohnungssystem effizient und konform verhalten. Was mich aber irritiert, ist, dass sie das meist ziemlich unkritisch mitmachen.

Wie macht sich diese unkritische Haltung für Sie bemerkbar?

In den Vorstellungsrunden meiner Seminare kommen immer dieselben Rückfragen: Was muss ich machen, um die Punkte zu kriegen? Wie viele Zeichen muss die Hausarbeit enthalten? Die Formalitäten scheinen den Studierenden wichtiger zu sein als die Inhalte. Man möchte keine Fehler machen und leistet immer den Minimalaufwand. Die Universitäten wiederum belohnen dieses Verhalten.

Für wen haben Sie Ihr Buch eigentlich geschrieben? Ging es Ihnen darum, den Studierenden einen Spiegel vorzuhalten?

Nicht nur den Studierenden. Genauso wie ich es kritisiere, dass sie sich dem Effizienzdruck einfach so hingeben, richtete ich mich auch an die Dozierenden. Und ich fragte: Ist das, was wir vermitteln, noch Bildung oder eher Ausbildung?

«Die Formalitäten scheinen den Studierenden wichtiger zu sein als die Inhalte – und die Universitäten belohnen dieses Verhalten»

Wo liegt denn der Unterschied?

Im Studium geht es nicht nur darum, Punkte zu sammeln oder die exakten 16 für die Prüfung vorgegebenen Seiten zu lesen – es sollte auch eine Entdeckungsphase sein. Selten erhält man im Leben wieder solche Gelegenheiten, einmal nach rechts und nach links zu schauen, Dinge zu entdecken, von denen man nicht sofort weiss, ob man sie im Leben noch einmal brauchen wird. Das ist Bildung. Ich hatte beim Schreiben des Buchs den Eindruck, dass wir die Studierenden um diese Bildung betrügen. Wenn man sie nämlich nur zum Nachplappern, Auswendiglernen und An-der-Prüfung-wieder-Ausspucken erzieht und ihnen das als Bildung vermittelt, erzeugt man ein falsches Bild davon, worum es in einem Studium geht. Und letztendlich bereitet das die Leute auch nicht aufs Leben vor.

«Wir Dozierenden müssen vor allem signalisieren, dass Noten eben nicht alles sind»

Im Buch kritisieren Sie auch, dass Dozierende zurückhaltend sind im Verteilen ungenügender Noten. Vermittelt man nicht noch mehr Leistungsdruck, wenn man strenger benotet?

Nicht unbedingt. Ich finde, wir Dozierenden müssen vor allem signalisieren, dass Noten eben nicht alles sind. Aber in Deutschland sind die Durchschnittsnoten an den Universitäten in der letzten Zeit angestiegen, ohne dass es messbare Indizien dafür gäbe, dass die Studierenden besser geworden sind. Weil heute jede einzelne Note in die Abschlussnote einfliesst, getrauen sich die Dozierenden viel seltener, jemanden durchfallen zu lassen. Man tut aber niemandem einen Gefallen, wenn man ungenügende Leistungen mit Credits belohnt. Es ist sicher schwierig, eine solche Entwicklung umzudrehen, doch würde das ohne Zweifel einen positiven Effekt haben.

Ihr Hauptkritikpunkt an den Studierenden bezieht sich auf die Diskussionsbereitschaft in Seminaren. Schweigen setzen Sie dabei mit Desinteresse gleich. Ist das nicht etwas zu einfach? Wäre es nicht auch eine Aufgabe der Dozierenden, insbesondere schüchterne, weibliche oder Studierende mit schwächerem Bildungshintergrund bewusster miteinzubeziehen?

Ich selber war auch eine stille und schüchterne Studentin. Es sind tatsächlich eher die männlichen Studenten, die selbstbewusst und eloquent auftreten und anderen Studierenden das Gefühl geben können, am falschen Ort zu sein. Das kann aber nicht der einzige Grund für das Schweigen im Seminarraum sein. Ich sehe in den abgegebenen Seminararbeiten, dass bei den Studierenden auch tatsächlich das Bewusstsein nicht vorhanden zu sein scheint, dass Geisteswissenschaften etwas mit Kontroversen zu tun haben.

Wie meinen Sie das?

Die Studierenden denken heutzutage vermehrt in einem klaren Frage-Antwort-Schema, in dem sie nur noch die «richtige» Antwort finden müssen. Im geisteswissenschaftlichen Studium hat aber jeder Standpunkt – gut begründet – seine Berechtigung. Das Gespür dafür fehlt aber meiner Meinung nach. Und auch das passt in unsere Zeit. Alles muss schnell gehen, auf eine Frage folgt immer eine richtige Lösung. Mittlerweile lasse ich die Studierenden darum Diskussionen vorbereiten. Das gibt ihnen eine neue Art von Selbstvertrauen, und sie sollen so den Diskurs wieder schätzen lernen.

«Den Schülerinnen und Schülern der Klimabewegung reicht der faire Konsum als politische Handlung nicht mehr. Sie gehen wieder auf die Strasse»

Sie haben also Ihren Unterrichtsstil angepasst, um die Studierenden zum Reden zu bringen. Allgemein kommt diesbezüglich aber wenig Innovation von den Dozierenden. Mein Eindruck als Studentin bleibt, dass ihnen weiterhin der Idealfall eines Sokratischen Dialoges vorschwebt, der in der Praxis selten funktioniert.

Da gebe ich Ihnen Recht. Und es findet diesbezüglich unter den Lehrenden auch keine Diskussion statt. Lieber stellen sie die Studierenden als faule ewig Zuspätkommende dar, die an kaum etwas interessiert sind und noch weniger lesen. Die Lehre zählt für das akademische Ansehen ausserdem nach wie vor nicht so viel wie die Forschung. Insofern herrscht hier wenig Innovation. Ich persönlich möchte den Studierenden einfach die Angst davor nehmen, etwas Falsches zu sagen oder mir zu widersprechen. Fragen wie die nach Zeichenzahlen erkläre ich mir mit einer grossen Angst davor, einen Fehler zu machen. Die Optimierung und die Suche nach der richtigen Lösung sind verinnerlicht.

Dies greifen Sie in Ihrem Artikel auch metaphorisch mit der Beschreibung der Wasserflaschen der Studierenden auf. JedeR trinkt während des Seminars möglichst viel Wasser, denn damit kann man sicher nichts falsch machen.

Genau. Aber dieses Verhalten wirkt manchmal einfach unselbstständig. Das Studium ist viel verschulter als früher, die Studierenden werden ans Händchen genommen und engmaschig betreut. Mittlerweile gibt es für Politikstudierende an der Uni sogar Kurse über das deutsche Regierungssystem – etwas, das früher noch als Allgemeinwissen vorausgesetzt wurde. Ich hatte nie das Gefühl, dass die Studierenden diese Verschulung als Problem empfunden hätten.

«Die Lehre zählt für das akademische Ansehen nach wie vor nicht so viel wie die Forschung. Deshalb herrscht hier wenig Innovation»

Was würden Sie Studierenden denn in Retrospektive auf Ihr eigenes Studium mitgeben?

(Überlegt lange) Auch wenn es langweilig klingt: Habt mehr Mut zu dem, was nicht unmittelbar nützlich scheint! Bewahrt eure Neugier und euren kritischen Geist. Kritisch zu sein bedeutet ja nicht, aus Prinzip immer dagegen zu sein. Es bedeutet, abwägen zu können. Argumente und Gegenargumente suchen zu können. Denn Geisteswissenschaft ohne kritische Geister verliert ihre Berechtigung.

Zur Person
Für Dr. Christiane Florin war schon lange vor ihrem Studienbeginn klar, dass sie in den Journalismus wollte. Sie studierte in der damaligen Hauptstadt Bonn sowie in Paris Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Musikwissenschaften. 1996 promovierte sie mit einer Dissertation zu Philippe Pétain und Pierre Laval. Nach der Entscheidung, nicht an der Universität bleiben zu wollen, arbeitet sie seit 1996 als Journalistin. 2000 erhielt sie einen Lehrauftrag in Politologie an der Universität Bonn, den sie seither nebst ihrem journalistischen Engagement beim Deutschlandfunk in Köln betreibt.