Entwicklungshilfe in Ruanda: Kolonisten oder willkommene Helfer?

MIT DEM STICHWORT RUANDA VERBINDEN DIE MEISTEN DAS TRAGISCHE EREIGNIS IM JAHR 1994: DEN GENOZID AN DER RUANDISCHEN MINDERHEIT DER TUTSI. EIN WENIGER BEKANNTER ASPEKT DER RUANDISCHEN GESCHICHTE IST DER SCHWEIZER ENTWICKLUNGSHILFEEINSATZ, WELCHER IN DEN 1960ER-JAHREN BEGANN. WELCHE ZIELE VERFOLGTE DIE SCHWEIZ MIT DIESEM ENGAGEMENT? UND WAR DIESES AUSDRUCK EINES VERSPÄTETEN KOLONIALISMUS?

Ruanda war von 1884 bis Mitte des Ersten Weltkriegs eine deutsche Kolonie. Vor der Unabhängigkeit 1962 stand das Land unter belgischer Mandatsmacht. Die ethnische Trennung der Bevölkerung geht auf die Kolonialherrschaft zurück. Getrieben von ideologischem und klassi katorischem Eifer teilte man die Ruander nach angeblich biologisch-genetischen Kriterien in Hutu und Tutsi ein. Die Hutu waren Ackerbauer, die Tutsi Viehzüchter. Der Unterschied wurde an der Anzahl Kühe, die eine Familie besass, festgemacht. Während der Kolonialzeit wurden die Tutsi als «Schwarze Weisse» von den Kolonialherren privilegiert behandelt. 1959 gelang den Hutu die Macht- übernahme. Während der Herrschaft der Hutu kam es immer wieder zu Massakern an den Tutsi, welche dann von April bis Juli 1994 im Völkermord ihren traurigen Höhepunkt fanden.

«Eine Schweiz in Afrika»

Das Entwicklungsprojekt des schweizerischen DftZ (Dienst für technische Zusammenarbeit) lief Anfang der 1960er-Jahre an – mitten in der Zeit der Dekolonisation. Die Schweiz war daran, sich im internationalen Gefüge neu zu positionieren. Durch ihr Handeln im Zweiten Weltkrieg hatte die Schweizer Neutralitätspolitik an internationaler Legitimation und Ansehen verloren. Mit dem Engagement in Ruanda positionierte sich die Schweiz in der westlichen Staatengemeinschaft neu und konnte ihrer Neutralitätspolitik frischen Glanz verleihen, indem sie diese ganz im Sinne von Max Petitpierre mit Solidarität anreicherte.

Bemerkenswert sind die Beweggründe, die zur Auswahl des Landes Ruanda führten: Der DftZ fokussierte auf Gemeinsamkeiten der Schweiz mit Ruanda. Erstens schien sich eine gewisse Kleinstaatsverbundenheit zu offenbaren – man erhoffte sich mit dem Einsatz in einem kleinen Land eine effektivere Wirkung und spürbarere Erfolge der Entwicklungshilfe. Zweitens erschien Ruanda gewissermassen als eine «Schweiz in Afrika». Die Verbundenheit war besonders gross, da es sich um ein hügeliges Land handelte, das wie die Schweiz – zumindest in der nostalgischen Selbstimagination – von der Landwirtschaft abhängig war. Drittens wirkte eine junge Demokratie mit einem bescheidenen, volksnahen Präsidenten unterstützenswert, da es wenig Sorge zur Annahme gab, dass das investierte Geld für das Luxusleben eines Monarchen verpulvert würde.

Ein verspäteter Kolonialismus?

Nun stellt sich die Frage, was die Motivation für die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda war. Kann der Einsatz als verspäteter Kolonialismus gedeutet werden? Zu Beginn des Einsatzes in Ruanda war der Glaube ungebrochen, mit ein wenig technischer Hilfe den Entwicklungsrückstand des afrikanischen Landes gegenüber den Industrienationen schnell aufholen zu können. Im Film Wir kamen, um zu helfen von Thomas Isler kommen verschiedene Schweizer Entwicklungshelfer zu Wort, die von ihren Erinnerungen berichten. Sie sprechen von sich als junge Europäer, die nach Afrika gingen und versuchten, dort etwas zu verbessern. Spezifisch war es das Ziel, das Schweizer Erfolgsmodell der Genossenschaften auf Ruanda zu übertragen. Als grösstes Entwicklungsprojekt wurde die Genossenschaft Trafipro gegründet, deren Name sich aus den französischen Worten «travail», «fidélité» und «progrès» zusammensetzte. In der Genossenschaft waren Schweizer sowie Ruander beschäftigt und sie hatte im ganzen Land verteilte Verkaufs- und Sammelstellen. Zusammen mit der inszenierten Auswahl des Einsatzortes – Schweizer Männer setzten sich vor eine Afrika-Karte und entschieden sich für das Land, in dem sie ihre Bedürfnisse am besten verwirklichen konnten – muten diese Punkte ein wenig kolonialistisch an.

Jedoch sollen die Unterschiede zwischen dem Kolonialis- mus des 19. Jahrhunderts und der Schweizer Entwicklungshilfe in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht übersehen werden. Die Schweiz hatte in den 60er-Jahren keine Herrschaftsansprüche auf Ruanda. Auch war der Grund für die Auswahl Ruandas nicht etwa ein grosses Rohstoff vorkommen. Die Wahl fiel auf Ruanda, weil sich die Gründer des Entwicklungsprojekts mit diesem Land am besten identifizieren konnten. Man suchte regelrecht nach Gemeinsamkeiten, wobei in den Kolonialherrschaften der europäischen Staaten oft rassische Überlegenheit betont wurde. Ausserdem waren die Schweizer keine unwillkommenen Eindringlinge wie die früheren europäischen Kolonialherren. Die Ruander, welche im oben genannten Film zu Wort kommen, verlieren jedenfalls kein schlechtes Wort über die Schweizer.

Probleme der Entwicklungshilfe

Gleichwohl war und ist die Schweizer Entwicklungshilfe in Ruanda nicht unumstritten. Gab es Zusammenhänge zwischen dem schweizerischen Projekt und den politischen Spannungen in Ruanda?

Während die ersten Massaker in Ruanda stattfanden und in den Schweizer Medien publik wurden, kam die Schweizer Entwicklungshilfe immer mehr unter Druck, ihren Einsatz innenpolitisch zu rechtfertigen. Auffallend ist, wie das Gewaltpotenzial der politischen Lage ausgeblendet wurde und mit welcher Rhetorik das Geschehen in der Schweiz legitimiert wurde. Anfangs wurde die Machtübernahme der Hutu als Auflehnung gegen eine jahrhundertelange Feudalherrschaft der eingewanderten Tutsi dargestellt. Dies stellte beabsichtigte Parallelen zwischen der schweizerischen und ruandischen Geschichte dar: Die Schweizer, welche sich einst auch mutig gegen die fremden Vögte der Habsburger auflehnen mussten, konnten sich so besonders gut mit den ruandischen Hutu identifizieren. Während des Kalten Krieges verschob sich dieser Legitimationsdiskurs und fand einen neuen Bezugsrahmen im Ost-West-Konflikt. Von nun an waren die Tutsi nicht mehr die Feudalherren, sondern Kommunisten, die von Rotchina gegen das Land aufgestachelt wurden. Die Schweizer waren in dieser Zeit sehr empfänglich für dieses duale Weltverständnis.

Eine zentrale Rolle im Schweizer Einsatz in Ruanda spielte die Genossenschaft Trafipro. Sie war massgeblich an der ökonomischen und politischen Emanzipation der bisher benachteiligten Hutu beteiligt. Für den Präsidenten Kayibanda war die Trafipro ausserdem ein Instrument für seine Propaganda und ein Mittel zur Finanzierung der Partei. Dadurch wurde sie immer mehr in die politische Machtkonstellation eingebunden. Auch innerhalb der Trafipro gab es ethnische Säuberungen: So kam es 1973 über Nacht zur Entlassung aller Mitarbeiter, die den Tutsi angehörten. Damit wurde das Schweizer Engagement aufgrund des vermeintlich apolitischen Instruments der Genossenschaft unerwartet politisch.


Literatur