Einige Fragen an Herrn Engels

Marx-Engels Forum, Berlin: Sitzender Karl Marx, im Hintergrund der stehende Friedrich Engels. (Quelle: Konstantinos Michail © 123RF.com)

In einer Geburtstagskarte gratuliert Carla Burkhard dem Denker und Gesellschaftstheoretiker Friedrich Engels zum 200. Geburtstag – und nutzt dabei die Gelegenheit, gründlich nachzuhaken.

Frühjahr 2020

Dem sehr geehrten Herrn Engels

Im Jahre 20, vor 200 Jahren versteht sich, feiern Sie Ihren Geburtstag, dazu erst einmal herzliche Gratulation. Unter den Theoretikern sind Sie zusammen mit Ihrem Freund Karl Marx wohl einer der bekanntesten. Da sollten Sie schon ein wenig stolz auf sich sein, zumal Ihre Theorie zum historischen Materialismus weltberühmt ist. Trotzdem oder gerade deswegen halte ich es für wichtig, sich kritisch mit Ihren Ideen auseinander zu setzen. Sie werden wohl nichts dagegen haben, wenn ich Ihnen einige Punkte erläutere, die man – wie ich finde – nicht einfach so stehen lassen sollte, nur weil Sie Geburtstag feiern.

Ich möchte zuerst auf Ihr Werk «Die deutsche Ideologie» von 1846 zu sprechen kommen. Bitte halten Sie mich nicht für unverfroren – ich bin überzeugt, dass ihre Ideen überlegt, ausgearbeitet und in gewissen Aspekten sicherlich legitim sind. Sympathisch ist, dass Ihre Ideologie auf Individuen und deren materiellen Umständen basiert. Vielleicht ist es gar nicht einmal so abwegig, die Theorie auf heute beziehen zu wollen. Die kapitalistischen Staaten sind so weit gekommen, dass Geld und Materialismus über alles gestellt wird. Geld macht erfolgreich und wer will das schon nicht sein? Und doch ist es, glaube ich, eine andere Ausrichtung auf das Materielle, als Sie sich vorgestellt haben. Denn ich habe nicht das Gefühl, dass unser egoistischer Materialismus jemals eine sozialistische Revolution auslöst. Im heutigen Mindset ist es fast unvorstellbar, dass die besessene Ausrichtung auf Materielles zu einer Gleichheit führen soll. (Wir hamstern momentan Toilettenpapier, können Sie sich das vorstellen?)

Ihre Ideologie, wie uns die Weltgeschichte zeigt, hat noch nie fair und wie vorgesehen funktioniert. Das liegt einerseits daran, dass es sich um eine Theorie handelt und sie andererseits als Legitimation für Macht benutzt wurde und zu diesen Zwecken interpretiert. Ich frage mich, ob die besprochene Ausrichtung auf das rein Materielle von Anfang an die Menschheit prägt. Und wenn nicht, ob eine Revolution das Denken des Menschen so krass beeinflussen könnte. Was meinen Sie denn zur Musik und Literatur oder dem Malen? Und zur Affinität für Glaube und Religion? Diese sind in der Theorie des Kommunismus nur ein Teil des Überbaus. Dies ist kaum möglich, denn wie lange gibt es unsere Weltreligionen schon? Die Menschen versuchen den Sinn des Lebens durch Religion und Glaube zu erklären, die Religion ist also ein kulturelles Produkt des Menschen, das versucht ihr/ihm einen Platz in der Welt zuzuschreiben. Die Religion verspricht dem Menschen kognitiven, emotionalen und pragmatischen Lebensgewinn. Wenn die Religion den Menschen also schon seit Urzeiten begleitet, begleitet ihn seit Urzeiten geistige Arbeit. Ich argumentiere also dagegen, dass sich die geistige Arbeit erst spät in einem fortgeschrittenen Stadium von der materiellen Arbeit trennt. Der Mensch kann mit wenig Materiellem auskommen – es ist bloss eine moderne Luxusidee, dass der Mensch nur glücklich sein kann, wenn er materiell wohlhabend und abgesichert ist.

Entschuldigen Sie, dass ich nun auch noch auf Ihr Privatleben zu sprechen komme. Ich hoffe, es schmerzt Sie nicht zu sehr, wenn ich auch da noch ein wenig kritisch nachhake. Zentral in Ihren Überlegungen ist die Revolution und die Diktatur des Proletariats. Es geht Ihnen also um die Arbeiterklasse, mit der Sie sich in Manchester auch intensiv auseinandergesetzt haben. Und so, nehme ich an, haben Sie auch Mary Burns kennengelernt. Sie hat Ihnen die Misere der Arbeiterklasse gezeigt, sie war Ihre Lebensgefährtin. Sie selbst aber gehören nicht der Arbeiterklasse an, Sie haben einen sicheren, materiellen, also sozialen Status, sind sogar ein Bourgeois. Ihre Lebensgefährtin wurde von Marx niemals anerkannt. Erscheint ihr Name deshalb nie? Im Vorwort zu Ihrem Werk «Die Lage der arbeitenden Klasse in England» erwähnen Sie Ihre authentischen Quellen, aber Namen oder Geschlecht derjenigen Personen, mit welchen Sie verkehrten, werden nirgends erwähnt. In Realität war also der soziale Status Ihrer Lebensgefährtin nicht mit Ihrem Leben vereinbar, so schien es jedenfalls Marx zu sehen. Bei einer Revolution würde Ihre Klasse von den Proletariern gestürzt. Sie selbst sahen sich in einem widersprüchlichen Leben, verglichen manchmal mit der Erzählung von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Diese Widersprüche haben sich auch auf Ihre Überlegungen übertragen. Aber meinen Sie nicht auch, dass genau diese Widersprüchlichkeit in Ihrer Theorie am angreifbarsten ist? Kann eine Theorie, welche von einer sozial höheren Klasse aufgestellt wird, von der unteren umgesetzt werden? Und kann die Auflösung der vorherigen gesellschaftlichen Situation so radikal stattfinden wie Sie es sich vorgestellt haben?

Und wenn wir schon bei Namen sind, die nicht auftauchen oder verschwunden sind, wollte ich Sie fragen, wie Sie zu Ihrem Freund Karl Marx stehen. Sein Name ist es, der Ihre Theorie geprägt hat. Ihr Name wird nebenbei erwähnt, obwohl Sie mit Ihren Ideen einen ebenso grossen Grundstein für den historischen Materialismus gelegt haben wie Marx. Was also ist geschehen? Nach dem Tod von Marx haben Sie es sich zur Aufgabe gemacht seine Werke zu vervollständigen und herauszugeben. Und immer setzten Sie sich an die zweite Stelle, Sie nannten sich selbst die zweite Violine. Waren Sie viel mehr von Marx’ Ideen überzeugt als von den eigenen? Oder wollten Sie Ihn so würdigen? Nach alledem, was Sie für Ihn getan haben (inkl. Anerkennung seines unehelichen Sohnes als Ihren eigenen)? Sie verschwinden neben dem Namen Marx. Und doch könnte man denken, dass Sie durch die Herausgabe seiner Werke genug Ihrer eigenen Ideen und Auffassungen da haben hineinfliessen lassen. Hätten Sie sich das jemals vorstellen können? Sie werden neben ihm als der Schuldige aller kommunistischen Exzesse angesehen, während Ihr Freund den ethischen und humanistischen Teil der Ideologie vertritt. Und dies unter anderem, weil Sie sich nach Marx’ Tod vermehrt mit Naturwissenschaft auseinandergesetzt haben. Wie auch schon oben erwähnt, können Sie wohl nicht für die dogmatischen Auslegungen Ihrer Theorie verantwortlich gemacht werden, doch scheint die heutige Auffassung Ihrer Ideen eher negativ geprägt.

Ihnen anrechnen muss man Ihren Willen zur Verbesserung der Situation der Arbeiter, er ist sicherlich löblich. Sie waren ein Weltverbesserer in Theorie. Und doch ist das alles, so leid es mir tut, eine reine Ideologie, die schwer umsetzbar bleibt.

Vielleicht schiesse ich mit meinen Annahmen und Behauptungen auch völlig daneben und Ihre Absichten waren andere. Nicht abzustreiten ist jedenfalls, dass Sie so schnell nicht in Vergessenheit geraten. Und so danke ich Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen weiterhin ein schönes Jubiläumsjahr.

Hochachtungsvoll,

Carla Burkhard

LITERATUR

Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1845, in: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke, Band 2, Berlin/DDR 1972, S. 225-506.

Hunt, Tristram: Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand, Berlin 2012.

Marx, Karl / Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, in: dies.: Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Band 3, Berlin (Ost) 1959, S. 18–36.