Eingesperrt ohne Gerichtsurteil

Das Podium im Kulturhaus Royal in Baden (Foto: Leonie Rohner).

Bis 1981 wurde zehntausenden Menschen in der Schweiz die Freiheit entzogen, ohne dass sie eine Straftat begangen hatten. Ein vom Bundesrat eingesetztes Forschungsteam hat über die letzten vier Jahre die Geschichte der sogenannten administrativen Versorgungen untersucht und präsentiert nun fortlaufend seine Ergebnisse. Letzten Mittwoch wurde im Kulturhaus Royal in Baden zum ersten Mal ein Dokumentarfilm gezeigt, der Betroffene von administrativen Versorgungen zu Wort kommen lässt.

Blauer Himmel, saftige Wiesen, ein paar Kühe grasen friedlich vor sich hin. Daneben steht ein prächtiges Schlossgebäude. Das ehemalige Schloss Hindelbank im Kanton Bern, eine grosse Villa aus dem 18. Jahrhundert, ist heute ein Frauengefängnis. Während vieler Jahrzehnte wurden dort neben verurteilten Straftäterinnen auch Frauen ohne Gerichtsurteil eingesperrt – sie wurden von Schweizer Behörden administrativ versorgt. Ein Ort der fatalen Ungerechtigkeit mitten in der ländlichen Idylle. In der Eingangsszene zum Dokumentarfilm Expertengespräche – Administrative Versorgung und Wege der Rehabilitierung treffen bewusst diese zwei unterschiedlichen Gesichter der Schweiz aufeinander.

Ursprünglich sei kein Film geplant gewesen, sagt Joséphine Métraux, die die Zuschauenden zur Veranstaltung begrüsst. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgung und dort zuständig für die Vermittlung. Für ihre Forschungsarbeit führten Mitarbeitende der UEK etwa sechzig Interviews mit Menschen aus der ganzen Schweiz durch, die in ihrer Vergangenheit administrativ versorgt wurden. Zehn der interviewten Personen waren später bereit, ihre Geschichte auch im Rahmen eines Dokumentarfilms zu erzählen – so fliessen nicht nur Erfahrungen von Betroffenen in die Forschungsberichte der UEK ein, das Thema bekommt auch ein Gesicht in der Öffentlichkeit.

Freiheitsentzug ohne Rechtsgrundlage

Zehntausende Jugendliche und Erwachsene wurden in der Schweiz administrativ versorgt, in Zwangsanstalten, Gefängnissen, psychischen Einrichtungen, Arbeitskolonien, Kinderheimen oder Trinkerheilanstalten. Dies geschah nicht aufgrund eines Gerichtsurteils, sondern dann, wenn die Behörden der Meinung waren, die Lebensweise einer Person entspräche nicht den gesellschaftlichen Normen und die öffentliche Ordnung müsse vor ihnen geschützt werden. Dabei traf es oft Menschen aus sozial und ökonomisch benachteiligen Schichten, die als «arbeitsscheu», «liederlich», «verwahrlost» oder «asozial» bezeichnet wurden. Erst 1981 revidierte der Bund die Gesetzte, auf die sich dieses Vorgehen stützte. Der Druck dazu kam von aussen: Internationale Organisationen forderten, dass die Schweiz, die 1974 die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hatte, ihre Gesetzte zur Anstaltseinweisung anpasst.

Lange wurde über dieses Kapitel der Schweizer Geschichte geschwiegen. Immer wieder drängt sich mir an diesem Abend die Frage auf, weshalb es über dreissig Jahre gedauert hat, bis das Unrecht von Seiten der Politik öffentlich anerkannt wurde. Jetzt fordern betroffene Personen umso vehementer eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema. In der Politik und Forschung hat man vor einigen Jahren auf diese Forderungen reagiert: 2013 hielt Bundesrätin Simonetta Sommaruga eine Rede, in der sie die Betroffenen von administrativen Versorgungen und anderen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen um Entschuldigung bittet. 2014 setzte der Bundesrat die Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgung ein mit dem Ziel, das Thema aufzuarbeiten und eine Debatte anzustossen, die über die Wissenschaft und die Politik hinausreicht. Inzwischen hat das Forschungsteam der UEK seine Arbeit abgeschlossen und präsentiert die Ergebnisse von März bis Juni in neun Publikationen, einer Ausstellung und an diversen Veranstaltungen.

Dass die Veranstaltungen der UEK an Orten wie dem Royal in Baden oder dem Palace in St. Gallen und nicht an den Universitäten stattfinden, war eine sehr bewusste Entscheidung, sagt Joséphine Métraux in ihrer Einführung. Die Frage nach einer sinnvollen Vermittlung sei für eine Expertenkommission – eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – zentral. Schliesslich sollen die Ergebnisse nicht nur Eingang in Bücher und den Synthesebericht für den Bundesrat finden, sondern auch auf anderen Wegen zur Bevölkerung gelangen. Dazu diene neben den Veranstaltungen auch eine Wanderausstellung, die durch zwölf Schweizer Städte reist und dort nicht in Museumssälen gezeigt, sondern auf vielbesuchten Plätzen den Leuten quasi in den Weg gestellt wird. Der Ausstellungspavillon soll die Menschen in ihrem Alltag «irritieren» und «stören», vor allem aber das Interesse wecken und das Bewusstsein für Ungleichheit, Armut und Machtverhältnisse auch in der Gegenwart schärfen, so Métraux.

Weniger «Schlachtenlehre», mehr Diskussion über Machtmechanismen

Im Publikum sitzen auch Erna Eugster und Sergio Devecchi, die zur Diskussion mit Joséphine Métraux und Heidi Pechlaner Gut, der Leiterin für Bildung und Vermittlung beim Historischen Museum Baden, eingeladen sind. Sie haben wie tausend andere das Unrecht der Schweizer Behörden erfahren und werden ebenfalls im Film der UEK porträtiert.

«Was heisst für Sie administrative Versorgung?», fragt Pechlaner Gut. Für Sergio Devecchi ist es die Entwurzelung und Entfremdung von Menschen und insbesondere eine Verletzung von Jugendlichen – alles vom Staat toleriert und aktiv gefördert. Für Erna Eugster ist das Zentrale die fehlende Rechtsgrundlage. Nicht nur brauchte es kein Gerichtsurteil für die Versorgung, es war auch fast unmöglich, rechtlich gegen die Behörden vorzugehen. Es gab, wie die Wanderausstellung der UEK zeigt, zahlreiche Beschwerden von Internierten und Angehörigen, die von der Anstaltsdirektion unterschlagen wurden oder bei den Zuständigen kein Gehör fanden. Auf die Frage, ob für sie eine Rehabilitierung möglich sei, haben die beiden keine eindeutigen Antworten. Es brauche auf jeden Fall sehr viel Zeit, und allein mit Geld sei dies nicht zu lösen, sagt Devecchi.

Auch die Betroffenen im Film werden nach möglichen «Wegen der Rehabilitierung» gefragt. Die Schweiz müsse die geschehenen Ungerechtigkeiten und Missbräuche an ihrer eigenen Bevölkerung als Teil ihrer Vergangenheit anerkennen, ist dort eine häufige Antwort. Nicht nur die einzelnen Menschen, sondern die Schweiz «als Nation» müsse sich dem Thema stellen. Für einige ist es jedoch heute zu spät: Nie die Möglichkeit gehabt zu haben, eine Lehre zu absolvieren oder die Schule abzuschliessen, könne nicht mehr gut gemacht werden, meint ein Betroffener im Film. Unverständnis rufen bei mir als Zuschauerin unter anderem die Gründe hervor, die zur administrativen Versorgung führten: Alkoholkonsum, Verweigerung der Rekrutenschule, Weglaufen von Zuhause. Wegen den kleinsten Anzeichen nicht konformen Verhaltens wurden Menschen in Anstalten eingeliefert, wo sie «auf den richtigen Weg» zurückfinden sollten – indem sie zum Beispiel täglich zehn Stunden in einer Uhrenfabrik oder auf einem Hof arbeiten mussten, ohne je dafür bezahlt zu werden.

Was muss jetzt getan werden, damit die Bemühungen der Betroffenen und die der UEK nachhaltig etwas bewirken? Die Themen administrative Versorgung und fürsorgerische Zwangsmassnahmen müssen in die Schulbücher, sind sich die Gesprächsteilnehmerinnen auf dem Podium einig. Weniger «Schlachtenlehre» in der Schule, dafür mehr Diskussionen über die gesellschaftlichen Machtmechanismen, die zu so etwas führen, meint Devecchi. «Hinschauen» ist für Eugster das Stichwort. Nach jahrzehntelangem Schweigen und Wegsehen, wünscht auch sie sich wie viele andere Betroffene vor allem öffentliche Anerkennung.

Zur UEK

Die Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgung wurde am 5. November 2014 vom Bundesrat eingesetzt. Sie besteht aus einem interdisziplinären Forschungsteam und hat die Aufgabe, die Geschichte der administrativen Versorgungen in der Schweiz bis 1981 zu untersuchen. Die Ergebnisse der UEK werden laufend bis im Juni 2019 präsentiert. Eine Wanderausstellung reist in 12 Schweizer Städte und wird von einem Veranstaltungsprogramm ergänzt. Die Wanderausstellung befindet sich derzeit auf dem Hechtplatz in Zürich. Die nächste Veranstaltung mit dem Titel «Die Macht der Bilder» findet am 27. März 2019 um im Volkshaus Zürich statt. Sowohl die Ausstellung als auch der Dokumentarfilm sind auf der Website der UEK verfügbar.
Zum Film (39’): https://www.uek-administrative-versorgungen.ch/begegnungen/film
Zur virtuellen Ausstellung: https://www.uek-administrative-versorgungen.ch/ausstellung/