Eine leidenschaftliche Apologie

KLASSIKER DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT

IN DER APOLOGIE DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT, SEINEM UNVOLLENDETEN LETZTEN WERK, GIBT MARC BLOCH EINEN ÜBERBLICK ZU THEORETISCHEN UND METHODISCHEN WERKZEUGEN EINES HISTORIKERS. ER VERTEIDIGT DIE GESCHICHTSWISSENSCHAFT UND ZEIGT AUF, INWIEFERN SICH DIE DENKWEISE DER HISTORIKER UND HISTORIKERINNEN VON DERJENIGEN ANDERER WISSENSCHAFTLER UNTERSCHEIDET. SEINE LEIDENSCHAFT ZUR GESCHICHTE, DIE IHN DAZU ANGETRIEBEN HAT, DIESES WERK UNTER SCHWIERIGSTEN UMSTÄNDEN ZU VERFASSEN, IST IN JEDER ZEILE SPÜRBAR.

Die Zusammenarbeit der französischen Historiker March Bloch und Lucien Febvre sollte die Geschichtswissenschaft in ihren Grundfesten verändern. Angefangen hat sie jedoch im Kleinen, in den 1920er-Jahren an der Universität Strasbourg. Im Jahr 1929 gründeten die beiden Kollegen eine Zeitschrift, die den heute schon fast legendären Namen Annales d’histoire économique et sociale trug. Parallel dazu etablierte sich durch ihre Arbeit die Annales-Schule, die wichtige methodische und inhaltliche Neuerungen in die Geschichtsforschung brachte.Die Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers war das letztes Werk von Marc Bloch und ging nicht zuletzt aufgrund seiner Entstehungsbedingungen in die Geschichte ein. Es entstand zwischen 1941 und 1943 einzig basierend auf Blochs Erinnerungen und Gedanken – ohne Hilfsmittel, ohne Bibliothek und unter Lebensgefahr. Das Vichy-Regime zwang Marc Bloch aufgrund seiner jüdischen Wurzeln ab 1940 mehrmals dazu, die Stelle zu wechseln, und als Südfrankreich 1942 von den Nationalsozialisten besetzt wurde, tauchte Bloch ganz unter. Im Jahr 1944 wurde er als Résistance-Kämpfer von der Gestapo unter dem Kommando von Klaus Barbie erschossen. Übrig blieb seine unvollendete Apologie. Lucien Febvre, der nicht nur der Mitgründer der Zeitschrift und Kollege, sondern auch ein enger Freund Blochs war, veröffentlichte im Jahr 1949 eine erste Ausgabe des Manuskripts mit eigenen Kommentaren und Ergänzungen. Zum fünfzigjährigen Jubiläum des Buchs brachte Étienne Bloch, Marc Blochs ältester Sohn, eine weitere Ausgabe des Werks heraus, das auf neu gefundenen Schriftstücken basierte und auf Febvres Eingriffe verzichtete.

Das Buch ist eine Erklärung des Handwerks der Geschichtswissenschaft und eine Legitimierung des Berufs des Historikers. Es entstand in einer Zeit, in der die Geschichtswissenschaft als solche in Frage gestellt war – die falschen Lehren der Historiker hätten Frankreich zu einer falschen Kriegsführung und damit in eine rekordschnelle Niederlage geführt, so die These mancher Zeitgenossen Blochs.

Geschichte als Wissenschaft

Eine Hauptaussage des Werks ist einerseits, dass Geschichte eine sich stets verändernde Wissenschaft ist und andererseits, dass Geschichte interdisziplinär betrieben werden sollte. Dies zeigt er anhand verschiedener Beispiele. Wenn Bloch Geschichte als alleinstehende Wissenschaft betrachtet, ist seine Definition wie folgt formuliert: «Geschichte ist die Wissenschaft vom Menschen in der Zeit». Da der Hauptgegenstand der Geschichtswissenschaft der Mensch ist, muss dieser in einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden. Weiter stellt Bloch klar, dass Geschichte weder einen Anfangs- noch einen Endpunkt hat. Die Zeitund Begriffe wie Anfangund Ursache problematisiert Bloch. Historiker und Historikerinnen sollten sich über Zeiteinteilungen und Sprachgebrauch bewusst sein. Allgemein betont Bloch die Bedeutung der literarischen und poetischen Komponente in der Geschichtsschreibung. Er selbst hält sich stets an seine Weisung – die Lektüre der Apologie ist angenehm und aufschlussreich, die Formulierungen klar und treffend.

Das Handwerk der Historiker und Historikerinnen

Bloch sieht in der Arbeit mit Quellen das «Handwerk» des Historikers. Da es nicht möglich ist, in die Vergangenheit zurückzureisen, gleicht der Weg zur Rekonstruktion der Aufgabe eines Richters, der ein Verbrechen nicht selbst mitangesehen hat. Er muss Indizien und Beweise so interpretieren, dass er ein Urteil fällen kann. Metaphern wie die des Richters bilden keine Seltenheit im Werk, oft unterlegt Bloch seine Argumente mit bildhaften und eingängigen Vergleichen. So gleicht der Historiker bei Bloch auch einem «…Menschenfresser. Seine Beute weiss er dort, wo er Menschenfleisch wittert». Für Bloch sind zwei Dinge für den Umgang mit Quellen wichtig: Erstens die Auswahl der für die eigene Arbeit relevanten Dokumente. Zweitens sei es wichtig, die richtigen Fragen zu stellen, denn nur die richtige Fragestellung würde die Quellen zum sprechen bringen und es dem Historiker erlauben, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Historische Kritik beinhaltet unter anderem die Untersuchung eines Schriftstücks auf Echtheit. Nach Bloch sollte dies aber nicht die Hauptfrage sein. Eine gefälschte Quelle kann genauso viel aussagen wie ein falscher Bericht, der getrübte oder falsche Erinnerungen beinhaltet. Eine Fälschung kann auf Grund, Motiv und Zweck untersucht werden. Selbst eine «echte» Quelle muss auf Irrtümer untersucht werden, denn diese wurde aus subjektiver Sicht verfasst und könnte somit Ungenauigkeiten und Fehleinschätzungen aufweisen. Bloch geht auf zwei Probleme des Berufs des Historikers ein. Erstens: Der Historiker sollte nicht werten, sondern verstehen, das heisst, Ereignisse und Vorgänge nicht beurteilen, sondern beschreiben. Dabei muss er sich selbst eingestehen, dass es nicht möglich ist, alles zu wissen, denn totale Unvoreingenommenheit und Objektivität sind bloss Ideale.Am Ende des Buches herrscht die Leere – Bloch konnte das fünfte Kapitel nicht beenden. Es bleibt seine Überzeugung für eine neue Art der Geschichtswissenschaft und seine Verteidigung derselben: Für den Citoyen Bloch legitimiert sich die Historie dadurch, dass sie nach dem Menschen in der Gesellschaft fragt, dass sie im Fragen nach Prozessen und Problemen hilft zu verstehen – seien es historische Prozesse oder die menschliche Existenz selbst.


Literatur