Ein revolutionäres Jubiläum in einer antirevolutionären Ära

Lenin-Statue vor dem Winterpalast, Ausstellung «Zeit zum Jubeln», Foto: Marc Friedli

Weshalb tut sich Russland mit dem historischen Erbe der Russischen Revolution, selbst hundert Jahre danach, immer noch schwer?

Historische Jubiläumsjahre sind für LiebhaberInnen der Geschichte Fluch und Segen zugleich. Einerseits ist man geneigt, sie zu verdammen, produzieren sie doch einen derart gewaltigen medialen und publizistischen Überschuss, der sehr schnell in einen Überdruss umschlagen kann. Andererseits bieten sie eben einen guten Anlass, um über Geschichte zu sprechen und breite gesellschaftliche Debatten anzustossen.

2017 war und ist wieder ein solches Jahr, in dem besonders zwei Jubiläen herausragen; ein halbes Jahrtausend jährt sich die Reformation, 100 Jahre die Russische Revolution. Und wo ist es naheliegender, ein Jubiläum zu begehen, als an jenen Orten, an denen sich das entsprechende Ereignis vorwiegend zutrug? Während 2017 die Lutherstadt Wittenberg im «Reformationssommer 2017» hunderttausende Touristinnen anlockt, um diese mit Luther-Tomaten, Luther-Playmobil-Figuren und Luther-Keksen kommerziell einzudecken, übt sich St. Petersburg, die Stadt der Russischen Revolution, in Zurückhaltung.

Es sei lediglich ein stilles Gedenken von Seiten der Regierung geplant. Kein Krach und Klamauk, weder Glorifizierung noch Verdammnis, schnell und komplikationslos sollte das Gedenkjahr vorübergehen. Eine Lichtershow auf der Fassade des Winterpalasts, einige Ausstellungen, sowie Beschilderungen an den ereignisträchtigen Orten der Oktoberrevolution, mehr aber auch nicht. Der Jahrestag der Revolution, zu Sowjet-Zeiten gross gefeiert und auch im postsowjetischen Russland stets gedacht, er wird vorsichtig angegangen. Der Zurückhaltung der Staatsmacht trotzen lediglich einzelne, spannende Projekte.

Marc Russland Büsten
Die Büsten der Revolutionäre auf dem Müllcontainer, Foto: Marc Friedli

Denn wer sich in St. Petersburg auf die Suche nach den Spuren der Revolution macht, wird selbstverständlich auch fündig. Beispielsweise im Retrokino Rodina, in dem das gesamte Jahr über regelmässig die Revolutionsfilme von Sergej Eisenstein und Wsewolod Pudowkin gespielt werden. Oder in der in der neuen Ausstellung «Zeit zum Jubeln» im örtlichen Street-Art-Museum, welche in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut St. Petersburg entstand und 51 KünstlerInnen aus aller Welt einlud, ihre Gedanken zum Konzept «Revolution» auszudrücken. Hier lässt sich die Russische Revolution künstlerisch entdecken und fassen. Etwa an der grossen Fabrikwand, auf der die Fassade der Eremitage gesprayt und eine Lenin-Statue davor aufgestellt wurde. Oder in einem davor gelagerten Müllcontainer, wo die Büsten kommunistischer Denker und Revolutionäre, im wahrsten Sinne des Wortes, auf dem Müllhaufen der Geschichte vermodern. Doch es sind einzelne Initiativen, die sich vornehmlich an Studierende, KünstlerInnen und Interessierte richten, die Breite der Gesellschaft jedoch kaum zu erreichen vermögen.

Sucht man nach den Gründen, weshalb das ehemalige Leningrad das Jubiläum zur Revolution durch ihren früheren Namengeber nur zögerlich begeht, so finden sich diese nicht nur in der naheliegenden erinnerungspolitischen Ambivalenz zwischen Sowjetnostalgie und Rückbesinnung auf das Zarentum, sondern auch im zeitgenössisch-politischen Klima Russlands. Als zur Jahrtausendwende in den für Russland strategisch wichtigen Anrainerstaaten Georgien und Ukraine junge Eliten gegen das postsowjetische Syndrom von Korruption, manipulierten Wahlen und zu einflussreichen Oligarchen revoltierten, begann, was der bulgarische Politologe Ivan Krastev plakativ den «weltweiten Krieg des Kremls gegen Revolutionen» beschrieb. Die allgemein als Farbenrevolutionen bezeichneten Aufstände wurden vom Kreml als unmittelbare und ernstzunehmende Bedrohungen angesehen, die jederzeit über die russischen Grenzen zu schwappen drohten.

Als die von Manipulationen und Verfahrensverletzungen geprägte Duma-Wahl vom Dezember 2011 auch in Russland hunderttausende Demonstranten auf die Strasse bewog, reagierte die Regierung entsprechend resolut und zog die Schrauben staatlicher Repression an. Wenig verwunderlich also, dass der «Krieg gegen Revolutionen» auch keinen Halt vor dem offiziellen Gedenken an die Revolution und ihre Protagonisten macht. Handelt es sich doch um ein Ereignis, welches die russische Gesellschaft nicht nur potenziell zu spalten vermag, sondern obendrein eine starke, antagonistische Metapher verkörpert. Die Russische Revolution ist, im Gegensatz zu den beiden ausgiebig gedachten und gefeierten Vaterländischen Kriegen, kein «entweder/oder», sondern ein «sowohl, als auch». Sie stellt eine unbequeme Vergangenheit dar, die sich nur schwer für zeitgenössisch-politische Belange instrumentalisieren lässt. Gleichwohl, wenn auch nur symbolisch, ist ihr subversiver und damit Status quo gefährdendes Narrativ stark genug, den Funken schlummernder Unzufriedenheit in Russland anzufachen. Ein politisch heisses Eisen, von dem der Kreml lieber die Finger zu lassen scheint.

Der französische Historiker und Revolutions-Forscher François Furet schrieb, dass eine Revolution so lange nicht abgeschlossen sei, «wie kein nationales Einvernehmen über sie hergestellt ist». Jubiläen bieten eine willkommene Möglichkeit, das nationale Einvernehmen zu fördern, indem Bewusstsein und Wissensstand innerhalb einer Gesellschaft geschärft werden. Die Chance, die Revolution im Sinne Furets abzuschliessen und eine breite Debatte anzustossen, wurde von der Stadt St. Petersburg und der russischen Politik dieses Jahr vertan. Stattdessen herrscht gedächtnispolitische Ratlosigkeit. Die Folgen der Revolution und ihre unmittelbare Verquickung mit dem «sowjetischen Projekt» sind noch frisch, die Gesellschaft darüber gespalten. Ihre symbolische Strahlkraft ist unberechenbar und trifft auf eine antirevolutionär gesinnte Politik. Eigentlich muss es ja nicht ausgerechnet 2017 sein, aber es bleibt trotzdem ein fader Beigeschmack, ja eine gewisse Enttäuschung zurück. Nicht nur die Revolution, auch Stalins Grosser Terror jährt sich dieses Jahr, bereits zum 80. Mal. Doch davon spricht niemand. Drängt sich letztlich unvermeidbar die Frage auf: Wenn nicht jetzt, wann dann?