Ein Jahrhundert in acht Gegenständen

Was hat der Hut auf einem Bild des holländischen Malers Jan Vermeer mit der Entstehung einer globalisierten Welt zu tun? Timothy Brook beantwortet die Frage in seinem Buch Vermeer‘s Hat. Und erzählt fast nebenbei anhand von acht Gegenständen die Geschichte des 17. Jahrhunderts.

Fernab von einer Mikrogeschichte legt Brook einen sehr weiten Fokus und braucht die Bildbesprechungen als Gefäss, um die Vernetzungen der damaligen Welt darzulegen. Indem einzelne Details aus den Bildern herausgepickt und deren
kulturelle oder tatsächliche Herkunft erläutert werden, ist es dem Autor möglich, ein breites Bild der Gesamtsituation des 17. Jahrhunderts aufzuzeigen. Brook beschreibt dabei das 17. Jahrhundert als «Zeit der Zweitkontakte», als die Zeit nach den grossen Entdeckungen und die Phase des Aufbaus von Handelsnetzwerken
und der Protoglobalisierung.

In acht Objekten um die Welt

Im ersten Kapitel The View from Delft stellt Brook anhand des gleichnamigen Bildes Vermeers die Stadt Delft vor. Dabei geht er vor allem auf die Gesellschaftsstruktur und die Relevanz der Niederlande im Weltgeschehen ein. Der Hauptfokus liegt dabei auf der Niederländischen Ostindien-Kompanie und dem
Fernhandel mit dem heutigen China.

Im zweiten Kapitel, Vermeer‘s Hat, wird das berühmte und titelgebende Bild des Offiziers mit Hut besprochen. Dabei wendet sich Brook von Asien ab und behandelt in einem kleinen Exkurs den Pelzhandel in den damals unter französischem
Einfluss stehenden Gebieten Nordamerikas.

In A Dish of Fruit fokussiert sich Brooks auf eine chinesisch inspirierte Porzellanschale in Vermeers Bild Young Woman Reading a Letter at an Open Window. Anhand ihres Beispiels wird der grosse Einfluss der chinesischen auf die europäische Kultur dargestellt. Neben den europäischen Kopien chinesischer
Kunst und der daraus entstandenen «Chinoiserie»-Strömung behandelt Brooks aber auch die niederländischen Handelswege und die Konkurrenz zu anderen Seefahrernationen, vor allem Portugal und Spanien.

Geography Lessons, nach dem Bild The Geographer benannt, bietet einen sehr weiten Überblick über Reisende und Handelnde. Brook beschreibt das Leben der Handeltreibenden und jener Menschen, die auf die eine oder andere Weise in
Verbindung zum Handel in Ostasien standen und sich den örtlichen Gepflogenheiten anpassen oder beugen mussten. In der Darstellung dieser Schicksale wird ebenso deutlich, wie unterschiedlich die damaligen Handelsstrukturen waren und wie sehr die Handelsnetze von verschieden Ethnien, Kulturen und Religionen durchwirkt gewesen waren.

School for Smoking ist das erste von zwei Kapiteln, in denen kein Werk von Jan Vermeer behandelt wird. Als Fallbeispiel dient hier eine nach chinesischem Stilvorbild gearbeitete, niederländische Anrichtplatte aus Porzellan, auf der unter anderem eine rauchende Person dargestellt ist. Brook geht dann auf den weltweiten Tabakhandel ein, mit einem starken Fokus auf der Einführung des Rauchens in China und dem späteren Wechsel von Tabak zu Opium. Dabei werden neben den wirtschaftlichen Interessen der Handelspartner auch die kulturelle Adaption und Rezeption des Rauchens in der chinesischen Bevölkerung dargestellt.
In Weighing Silver wird die Problematik der Bezahlung und des Werterhaltes im Welthandel aufgegriffen. Die unterschiedlichen Währungsarten werden ebenso beschrieben wie die Herkunft des oft als Wertgarant verwendeten Silbers. Die Aufhängung des Währungsaspekts ist in diesem Falle sprichwörtlich die in Vermeers Bild A Woman Weighing Silver dargestellte Waage. Journeys ist das zweite Kapitel, in dem nicht auf Vermeers Werk eingegangen wird, sondern auf ein Bild eines anderen holländischen Malers, nämlich Hendrik van der Burchs The
Card Players. Dabei wird anhand des darauf dargestellten dunkelhäutigen jungen Dieners und zwei weiteren Beispielen von Gestrandeten das Schicksal jener Menschen dargelegt, die innerhalb des 17. Jahrhunderts entwurzelt wurden und sich in einer fremden Kultur zurechtfinden mussten.

Ein weiter Horizont

Im kurzen letzten Kapitel No Man is an Island wird mittels des Zitats «no man is an island, entire on itself» des englischen Poeten John Donne ein Résumé eingeleitet, das erneut die starke Vernetzung der damaligen Welt und die grosse Bedeutung
des Handels betont. Dabei wird noch ein letztes Mal Jan Vermeers Geschichte aufgegriffen und mit der Erzählung seines Ablebens auch das Buch beendet.
Das Buch Vermeer‘s Hat fokussiert sich bei seinen Erklärungen neben der offensichtlichen Verbindung Vermeers zu den Niederlanden sehr auf China. Dies ist zum einen den starken Handelsverbindungen der Niederlande mit China geschuldet, zum anderen aber sicher auch eine Folge davon, dass Timothy
Brooks akademischer Schwerpunkt die Geschichte Ostasiens ist. Mit Ausnahme der Kapitel über den nordamerikanischen Pelzhandel und die Silberminen in Südamerika liegt der Fokus vor allem auf Asien und den Niederlanden. Dennoch gelingt es dem Autor, aus diesem Blickwinkel einen lebendigen Eindruck
der damaligen Umstände zu schaffen und die Automatismen und Verschiebungen im Weltgeschehen des 17. Jahrhunderts zu beleuchten.

Auf keiner Seite langweilig

Anstelle eines einzelnen stringenten Erklärungsfadens weicht Brook immer wieder auf andere Aspekte aus, verbleibt nie lange bei einem Thema und springt von einer Teilgeschichte zur nächsten. Dies gehört zur Struktur des Werkes, das keine Detailstudie zu einem spezifischen Thema darstellt, sondern den Blick in die Weite pflegt und mithilfe einzelner Beispiele eine Ahnung vom grossen Ganzen ermöglicht.

Alles in allem entsteht dadurch ein sehr greifbares Werk, dessen Lektüre kurzweilig ist, das aber dennoch nie seicht wird. Dass dabei nicht jedes Thema bis ins letzte Detail untersucht werden kann, ist der Struktur des Buches geschuldet und auch
nichts Schlimmes, es verhindert sogar eher, dass der Text langatmig und verworren wird. Timothy Brook will mit dem Buch hauptsächlich einen Überblick schaffen, und dies gelingt ihm ausserordentlich gut.