Die Schweiz arbeitet auf

Beim Empfang der Jungen aus dem KZ Buchenwald wird Klara in der Serie Frieden mit deren traumatischer Vergangenheit, aber auch der begrenzten Humanität der Schweiz konfrontiert (SRF/Sava Hlavacek).

«Frieden» rüttelt auf. Und weckt schlafende Hunde. Die SRF-Serie über den Morgen danach versetzt uns zurück ans Kriegsende 1945: mitten ins Spannungsfeld zwischen Moral, wirtschaftlicher Realität und Profitdenken, geprägt durch den Zweiten Weltkrieg. Wir fragen uns: Wieso erinnern wir uns plötzlich? Und: Braucht die Schweiz eine Abrechnung?

Eine der teuersten SRF-Produktionen überhaupt, eine aufwühlende Serie und breit abgestützte Hintergrundberichte – mit eigener Titelmusik. Das ist der SRF-Schwerpunkt «1945», dessen Kernstück die sechsteilige Serie «Frieden» bildet. Die historische Verfilmung betrifft und begeistert. Dies zeigen sowohl die Zeitungskritiken als auch die Zuschauerquoten. Zu sehen war sie kompakt innerhalb von drei Tagen im Fernsehen und ist noch bis am 8.12.20 auf SRF Play und Play Suisse.

Frieden?

Der Titel ist trügerisch. Denn auch wenn am 8. Mai 1945 die Friedensglocken selbst in der Schweiz läuteten und am 19. August der Aktivdienst vorbei war, wirft der Krieg seine Schatten auf die Schweiz. Dies zeigen die Lebensentwürfe der Fabrikantentochter Klara (Annina Walt), ihrem frisch angetrauten Ehemann Johann (Max Hubacher) und seinem Bruder Egon (Dimitri Stapfer); alle drei sind konfrontiert mit den Taten der Nationalsozialisten und vor allem: mit dem Schweizer Umgang damit.

Klara erlebt die Heimaufnahme jüdischer Jungen aus dem KZ Buchenwald. Statt wie gewollt kleine Kinder kommen junge Männer, die von der Schweiz und dem Roten Kreuz nur widerwillig empfangen werden. Deren Aufnahme wird zwar als humanistische Tat propagiert, die Humanität zeigt aber bald ihre Grenzen. Als Klara den Jungen den von ihnen gewünschten Unterricht bieten möchte, muss sie auf eigene Faust Schulbücher sammeln. Zeitgleich verstrickt sich der Textilfabrikant Johann für den Erhalt des Familienbetriebs in zweifelhafte Beziehungsnetze mit Deutschen, während die fieberhafte Suche seines Bruders nach untergetauchten Nazis zunehmend in die Nähe ebendieser deutsch-schweizer Beziehungen führt. Egon selbst ist gezeichnet von der Zeit als Soldat an der italienischen Grenze. Dort hatte er jüdische Flüchtlinge «eigenhändig» abgewiesen und zurück über die Grenze getragen, was ihn an den Rand der Verzweiflung trieb. Er gesteht sichtlich mit Mühe: «Aber Befehl ist Befehl».

Historische Realität: Von Buchenwald, der Fabrik und den Grenzen

Genau dieses Dilemma beschrieb damals ein Tessiner Soldat in seinen wöchentlichen Briefen an seine Ehefrau. Während des Zweiten Weltkriegs musste er an der italienischen Grenze hautnah die Folgen der restriktiven Flüchtlingspolitik der Schweiz erfahren. Diese hatte im Sommer 1942 ausdrücklich beordert: «Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z.B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge.» Sie wurden abgelehnt. Diese Problematik nimmt die Drehbuchautorin Petra Volpe basierend auf diesen Briefen mit der Geschichte des Soldaten Egons auf. Ihr Ziel: Eine Fiktionalisierung mit historischer Grundlage. Die Mischung aus fiktivem Drama und den damaligen gesellschaftlichen Problemen überzeugt auch den Historiker Jakob Tanner. Er hatte als Mitglied der Bergier-Kommission zur Nachkriegszeit geforscht, und so zu den historischen Grundlagen von «Frieden» beigetragen. Viele der historischen Aspekte wurden stark verdichtet auf eine einzige Familie projiziert – für mehr Hauptdarsteller*innen war schlicht nicht genug Budget vorhanden.

Weitere Forschungen lieferten den Kontext der Nachkriegszeit, in der die Serie spielt. Die Dissertation von Madeleine Lerf über die Aufnahme der Buchenwaldkinder brachte das Kalkül der Schweizer Hilfsaktion zum Vorschein. Begebenheiten wie die Sammelaktion der Schulbücher beruhen auf dem Buch der Heimleiterin Charlotte Weber (1912 – 2000), die unter anderem auch Vorbild für die Figur Klara war. Dokumente aus dem Bundesarchiv belegen den Willen des Bundesrates, jüdische Kinder zwar aufzunehmen, spätestens nach sechs Monaten allerdings wieder «loszuwerden». Die Schweiz verstand sich nur als Transitland. Ein Briefwechsel aus Bern belegt die Angst vor einer Unberechenbarkeit der jungen KZ-Überlebenden. Nur der Druck der Alliierten und der drohende Prestigeverlust bewegte die Schweiz schliesslich dazu, die älteren Jugendlichen aufzunehmen.

Buchenwald-Kinder der Schweizer Hilfsaktion mit der Betreuerin Charlotte Weber (1912-2000) vor dem SRK-Heim Zugerberg (SRF/Privatarchiv Gioia Weber).

In bestimmten Details weicht die Erzählung allerdings von den Gegebenheiten ab: So war bei der Ankunft im Heim des Roten Kreuzes bereits klar, dass kaum jemand jünger als 12 Jahre sein würde. Andere, reale Details wurden dafür miteingeflochten: Das Buch über die Zeit im KZ, das einer der Jungen in der Serie der Heimleiterin Klara gibt, existiert wirklich und wurde 50 Jahre nach dem Krieg veröffentlicht.

Klare Parallelen gibt es auch zwischen der Geschichte der Nylonfabrik von Johann und der heutigen Ems Chemie: Diese hatte damals ihren wirtschaftlichen Erfolg tatsächlich den guten Kontakten des SP-Politikers Robert Grimm und dem Wissen deutscher Chemiker zu verdanken.  Dank ihnen konnten Sie nach dem Krieg ihre Treibstoffproduktion auf Nylon, das sogenannte «Grylon» – mit auffälliger Betonung auf die schweizerische Herkunft im Graubünden – umstellten. Die SRF-Doku dazu wirft die Frage auf, wieso dieses relevante, aber dunkle Kapitel in der heutigen Firmenchronik im Besitz der Familie Blocher nur in einer Randnotiz aufgeführt wurde.

Moral: Die Frage nach Schuld schwingt mit

In den Medien wird Kritik laut. Statt nüchtern zu informieren, würde diese Doku «aus sicherer Distanz» ein ganzes Land moralisch verurteilen. So sieht das zumindest Rico Bandle in der Sonntagszeitung. Der ehemalige Feuilletonchef der Weltwoche bezeichnet es zwar als löblich, den Fokus auf die bisher vernachlässigte Nachkriegszeit zu setzen, stört sich aber am «ständig anklagenden Unterton» sowohl der beiden Dokus wie auch der Serie. Er zitiert den Satz eines Jugendlichen aus dem KZ Buchenwald: «Ihr Schweizer seid halt auch nicht anders» und fragt: «War die Schweiz tatsächlich so schlimm wie Nazideutschland?». Diese Haltung kritisiert die WoZ scharf: Die «Einladung an die Nazichemiker» werde im Artikel bagatellisiert als Notwendigkeit, während gleichzeitig grosses Verständnis für die damalige Angst vor den KZ-Überlebenden gezeigt werde. Beide Artikel plädieren dafür, die historische Komplexität anzuerkennen und nicht moralschwere Bekundungen zu machen, können es aber ihrerseits nicht vermeiden, die Frage nach der Schuld in den Raum zu werfen.

Wieso scheint die Frage nach Schuld unumgänglich? Es gebe eine Neigung, sich spontan zu identifizieren, wenn irgendwo der Schweizer Name draufstehe. Sich zum Beispiel schlecht zu fühlen, wenn Bürger*innen des eigenen Landes irgendwo ein Unheil anrichten, so dass dieses oft erst im Nachgang differenziert werde. Dies meint der Philosoph Michael Schefczyk in der Sendung Sternstunde Philosophie «Die Schweiz als Komplizin». Unsere spontane menschliche Betroffenheit provoziert die Frage nach Schuld also möglicherweise mit. Gerade, wenn wir heute mit der Serie «Frieden» mitten ins Leben der drei Hauptfiguren zurückversetzt werden, rüttelt dies auf, und lässt Fragen auftauchen, die nicht nur angenehm sind.

Aufarbeitung: Was unsere Schulbücher erzählen

Der Historiker Kijan Espahangizi konstatiert als Antwort auf Schefczyk, dass die Frage nach einer «historischen Schuld» einenge. Die Debatte solle nicht bei der Schuld, sondern vielmehr bei der Verdrängungsleistung ansetzen. Und die ist gross in der Schweiz.

Tatsächlich: Obwohl es schon einige zeitgenössische kritische Stimmen gab, setzte sich die Schweiz spät und erst aufgrund äusseren Drucks mit ihrer Rolle im und nach dem Krieg auseinander. Nach Kriegsende 1945 war sie äusserst bedacht darauf, sich international als humanitäres Land, das nur aus reiner Notwendigkeit mit den Deutschen gehandelt habe, zu etablieren. Erst Negativschlagzeilen über den schweizerischen Judenstempel, Aktenpublikationen im Ausland und sich kritisch äussernde Schriftsteller wie Friedrich Dürrenmatt drängten ab den 60er Jahren zu einer schrittweisen Untersuchung der Schweizer Flüchtlings- und Aussenpolitik. Amerikanische Sammelklagen über das nachrichtenlose Vermögen jüdischer Opfer führten dann Ende der 90er Jahre zur ersten umfassenden historischen Aufarbeitung: Die Bergier-Kommission veröffentlichte ihren Bericht über die Schweiz und das jüdische Vermögen 2002. Eine ambivalente und selbstkritische Selbstdarstellung schaffte es so erstmals in die Schulbücher. 

Dass wir uns ausgerechnet jetzt erneut erinnern, mag verschiedene Ursachen haben. Sei es die 75. Jährung des Kriegsendes, die Tatsache, dass die Generation jener, die den Krieg und die Nachkriegsjahre erlebt hatten, altersbedingt schwindet oder das Interesse am Handeln der Schweizer Regierung in der Coronakrise mit dem Blick zurück, als zuletzt der Notstand im Zweiten Weltkrieg ausgerufen wurde. Klar ist: Durch den Schwerpunkt des SRF auf das Jahr 1945 wird eine mediale Diskussion forciert. Ihr Blick auf die Nachkriegszeit füllt die «spannungsvolle Leerstelle im historischen Gedächtnis» und prägt somit die neue Erinnerung der Schweiz mit. Doch wie gehen wir mit ihr um?

Gestern – Heute – Morgen

Wie wir heute mit dieser Vergangenheit umgehen sollen oder wollen, sei eine politische Frage, meint die Historikerin Lea Haller in der Sternstunde Philosophie. Die Aufgabe der Historiker*innen sei es, in aller Breite nachzuforschen, was damals geschah, welche Handlungsspielräume es gab und welche Taten folgten. Sie bildeten die Grundlage für den Erinnerungsprozess. Steuern könnten sie diesen aber nicht. Sie wirft ein: Gerade die Ambivalenzen der Geschichte müsse eine demokratische Gesellschaft aushalten können.

Wo wir uns heute mit unserem Erleben und Handeln einordnen, stehe in direktem Zusammenhang mit unserer Erinnerungspolitik. Und präge unseren Blick in die Zukunft, meint Kijan Espahangizi. Diskussionen um die Flüchtlingspolitik oder die Konzernverantwortungsinitiative dürften diese Aussage verdeutlichen.

Lea Haller stimmt zu: Geschichte könne uns zwar keine Handlungsanleitung bieten. Dank einer historischen Aufarbeitung könnten wir jedoch informierte Entscheidungen für die Zukunft treffen. Denn: Geschichte sei kein Automatismus: «Geschichte wird gemacht».

Drehbuchautorin Petra Volpe erhofft sich von ihrer Serie «Frieden», dass sie den Zuschauer*innen eine Wachheit gegenüber der eigenen Vergangenheit vermittelt. Eine Wachheit, die sich traut, den hässlichen Seiten der eigenen Geschichte ins Auge zu blicken. Statt einer Abrechnung möchte die Serie «Frieden» also 75 Jahre nach dem Kriegsende vor allem eines: an einem Bild rütteln, das zu lange die Erinnerung der Schweiz geprägt hat.

Frieden ist noch bis am 8. Dezember 2020 auf SRF Play verfügbar.