Auf eine Zigarette Mit Mao – ein Schweizer in den Höhlen von Yan‘an

IM MAI 1938 REISTE DER SCHWEIZER FOTOGRAF WALTER BOSSHARD (1882-1975) ALS ERSTER EUROPÄISCHER BERICHTERSTATTER ZU DEN HÖHLENBAUTEN VON YAN’AN, DEM DAMALIGEN STÜTZPUNKT DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI CHINAS. IN DEN UNWIRTLICHEN LÖSSLANDSCHAFTEN NORDCHINAS TRAF ER MAO ZEDONG, DER HIER NACH EINER ODYSSEE QUER DURCH DAS LAND SEINE VISION EINES «NEUEN CHINAS» VERWIRKLICHEN WOLLTE.

Gezwungen durch die kargen Bedingungen in Teilen Nordchinas machen Bauern schon seit Jahrhunderten aus der Not eine Tugend. Sie graben ihre Behausungen in die Erde. Die Ablagerungen der Lösserde aus den weiten Steppen Asiens bieten genügend Möglichkeiten, um sich ein Heim im Untergrund zu errichten. Die Höhlenbauten – auf Chinesisch yaodong genannt – sind mit einfachen Werkzeugen und ohne zusätzliches Baumaterial relativ schnell und einfach zu errichten. Sie erlauben eine doppelte Landnutzung, können bei Bedarf erweitert werden und benötigen nur wenig Heizmaterial in den kalten Wintermonaten. Im Gebiet um die Stadt Yan’an in der Provinz Shaanxi lassen sich bis heute viele Höhlenbauten finden. Sie liegen an terrassierten Hängen über dem Fluss, sind übereinander gelagert und können einfach betreten werden. Das Gebiet ist bis heute nur schwer zugänglich und weit entfernt von zentralen Handels- und Transportwegen, die vor allem die Ostküste zum wirtschaftlichen Zentrum Chinas machen. Strategisch gesehen lassen sich die Zugangswege gut kontrollieren, wodurch der Aufbau einer Infrastruktur zur Versorgung der Bevölkerung in Ruhe vonstattengehen kann. Zudem kann man durch die Höhlenbauweise in kurzer Zeit Wohnraum für Neuankömmlinge schaffen. Insofern bot die Gegend gute Bedingungen, um sich vor den Attacken politischer Gegner zu schützen.

Revolutionspläne aus den Höhlen

Nach eben solchen Bedingungen hielt Mao Zedong um die Jahreswende 1934/1935 Ausschau. Von den feindlichen Truppen der nationalchinesischen Zentralregierung (Guomindang, GMd) unter Chiang Kai-shek umzingelt, entschloss sich die Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Juli 1934 zum Ausbruch aus ihrem Machtgebiet im Süden Chinas, dem Jiangxi Soviet. Mit ungefähr 90’000 Soldaten und Soldatinnen sowie Parteikadern kämpfte sich die Rote Armee durch die feindlichen Linien und machte sich auf den 12’000 Kilometer langen Weg quer durch China. Die Flucht ging später unter dem Namen «Der Lange Marsch» (changzheng) in die Annalen der KPCh ein. Auch wenn der «Lange Marsch» bis heute zum Mythos des Durchhaltewillens und der Kampfeskraft der Roten Armee verklärt wird, handelte es sich um eine vernichtende Niederlage. Die meisten Gebiete unter kommunistischer Kontrolle waren zerstört, die Rote Armee durch ständige Bombenangriffe der Armee Chiang Kai-sheks und den Marsch durch feindliche Landschaften stark dezimiert. Die Kommunisten, die in Yan’an ankamen, waren eine von Erschöpfung gezeichnete Gemeinschaft. Auch Mao Zedong war sich der fulminanten Niederlage bewusst. Nun mussten sie die ökonomische, politische und soziale Basis des Kommunismus in China neu aufbauen.

Dies sollte in Yan’an geschehen. Die Parteiführung entschied sich für das schwer zugängliche Gebiet im Norden Chinas, weil sie sich dort in relativer Sicherheit vor den Bombenangriffen der nationalchinesischen Armee wähnte. Da die Gegend nur spärlich besiedelt war, begann sie sofort damit, Höhlen zu bauen; als Wohnräume, als Studienräume zur Schulung der Parteikader, als Krankenhäuser und zur Ausarbeitung politischer Ideen, die China in eine strahlende Zukunft führen sollten. Trotz aller Schwierigkeiten entwickelten Mao und die Parteiführung der KPCh Leitlinien, welche die Basis für die zukünftige kommunistische Politik und Revolution in China bilden sollten. Hier wurden die revolutionären Ideen implementiert, verbessert und zur Grundlage der späteren sozialen Transformation des riesigen Reiches gemacht. Schon zu dieser Zeit begann die Mythologisierung des Ortes, so wurde Yan’an als «heiliges Land der Demokratie» (minzhu de shengdi) bezeichnet. In den Höhlen im Norden Chinas begann somit ein neues Kapitel der kommunistischen Revolution in China, die sogenannte «Yan’an Periode».

Walter Bosshards Reise nach Yan’an

Die Aufbruchstimmung in den Gebieten des «kommunistischen Chinas» weckte auch in Walter Bosshard die Neugier. Der Schweizer hielt sich seit Beginn der 1930er-Jahre hauptsächlich als Auslandskorrespondent und Fotograf in China auf und arbeitete für bekannte Printmedien wie die Berliner Illustrirte Zeitung (ab 1941 Berliner Illustrierte Zeitung), die Neue Zürcher Zeitung oder Life. Als aufmerksamer Beobachter und bestens vernetzter Journalist bewegte er sich an vielen Schauplätzen in Asien. Er nahm etwa an der deutschen Zentralasien-Expedition unter der Leitung von Emil Trinkler in den Jahren 1927/1928 teil, traf Ghandi in Indien im Jahr 1930 und flog als Fotograf 1931 mit der «Graf Zeppelin» über die Arktis. Seinem Lebensmotto «Vivre c’est voyager!» folgend, begab sich Bosshard in den Dreissigern als Berichterstatter zu den Kriegsschauplätzen des aufziehenden Zweiten Weltkriegs in China. Nach der Invasion der japanischen imperialen Armee im Sommer 1937 berichtete er von der Besetzung Beijings und Shanghais sowie von der Eroberung Hankous (heute teil der Stadt Wuhan). Obgleich um «journalistische Objektivität» bemüht, hegte Bosshard Sympathien für die chinesische Bevölkerung und machte sich stets für die Verteidigung Chinas stark. Er kritisierte schon früh die Aggressionen und Gräuel der japanischen imperialen Armee. In der Diktion der Zeit meint Bosshard in einem Brief an seine Familie in Zug am 31. August 1937: «Es geht reichlich toll zu und her, die gelben Krummbeiner sind voellig verrueckt geworden, beschiessen sogar den britischen Botschafter, schmeissen Bomben mitten in die Zivilbevoelkerung und kein Mensch weist sie zur Ordnung.» Er fährt fort: «(…) und ich hoffe nur eines: dass ich den Tag erlebe, an dem diese verrueckten Krummbeiner sich auf ihre Insel zurueckziehen muessen.» Auch wenn Bosshard in seinen Zeitungsartikeln auf politisch wertende und rassistische Ausdrücke verzichtet, sympathisiert er mit dem Kampf der Chinesen gegen die japanische Invasion. Dabei nutzte er Bildberichte als ein Mittel, die asiatischen Kriegsschauplätze ins Bewusstsein der westlichen Welt zu rufen.

Mit seinen Fotoreportagen in den Illustrierten gehört Walter Bosshard zu den Pionieren des modernen Fotojournalismus. Ausgebildet als Lehrer, eignete er sich fotografisches Wissen in Kursen selber an. Seine Reportagen dienten vor allem der Vermittlung von menschlichen Erfahrungen und Alltagswelten, die einen Blick in fremde Länder ermöglichen sollten. So finden sich unter seinen Werken neben Berichten zu den Asien-Expeditionen vor allem Bilderserien zum alltäglichen Leben von chinesischen Bauern oder Guerillakämpfern. Mit seiner Kontaktfreude, Risikobereitschaft, Reiseleidenschaft und Neugier gelang es Bosshard in China schnell, Kontakt zu europäischen Diplomaten, Journalisten und Journalistinnen sowie Militärberatern aufzubauen. Und eben solche Kontakte ermöglichten ihm im Mai 1938 den Besuch in den streng kontrollierten kommunistischen Gebieten um Yan’an. Mit Hilfe von Agnes Smedley, einer berühmten amerikanischen Berichterstatterin und kommunistischen Sympathisantin, konnte Bosshard Kontakt zu hohen Parteimitgliedern der KPCh herstellen. Zusammen mit dem amerikanischen Journalisten A.T. Steele reiste Bosshard in einer Nachschubkolonne von Xi’an nach Yan’an; eine Strecke von 500 Kilometer, die ihn auf eine sechstägige Fahrt über unbefestigte Strassen und durch schwieriges Terrain führte. Von den Strapazen der Reise und seinen Erlebnissen in Yan’an berichtete Bosshard seinem Publikum in Europa und den Vereinigten Staaten ausführlich und schuf damit einzigartige Einblicke in eine Welt, die den Leserinnen und Lesern wenig bekannt war.

Bosshard «im kommunistischen China»

In einer sechsteiligen Serie unter dem Titel Im kommunistischen China in der Neuen Zürcher Zeitung im August 1938 verband Bosshard Informationen zur politischen Lage und zur historischen Dimension der kommunistischen Bewegung mit eigenen Erfahrungen im Stile eines Reiseberichts. Dabei bediente er sich stets des Mittels der Fotografie, um die Eindrücke der Landschaft und des Lebens in Yan’an einzufangen. Gleichzeitig schuf er ein einzigartiges Zeitdokument: einen 21-minütigen Kurzfilm mit dem Titel Yenan.

Wie die Artikelserie dokumentiert der Film in schwarz-weiss und ohne Ton Bosshards Reise nach Yan’an. Neben zahlreichen Aufnahmen der Lösslandschaft stehen vor allem Menschen und deren Lebensweise im Fokus von Bosshards Kamera. Der Film zeigt zahlreiche Soldaten und Soldatinnen sowie Studierende der Parteischulen, die in den kahlen Höhlen Yan’ans die Ausbildung für den Kampf gegen die japanische Armee und für die kommunistische Revolution erhalten. Die Kamera fokussiert in ruhigen Bildern auf die Höhlenbauten Yan’ans, in denen die Revolutionäre leben. Geschützt vor Bombenangriffen der japanischen Flieger und den widrigen Umweltbedingungen, manifestiert sich im Untergrund der Zusammenhalt und der Einsatzwille der Jugend für eine bessere Zukunft. Yan’an stellte sowohl für junge Menschen als auch für linke Intellektuelle, die aus Beijing oder Shanghai vor der Besetzung der Japaner flohen, ein Sehnsuchtsort dar. Bosshard schreibt dazu im ersten Teil seiner Artikelserie: «Je mehr wir uns jedoch der ‹roten Hauptstadt› näherten, um so zahlreicher und grösser wurden die Gruppen junger Chinesen, die mit wenig Gepäck auf dem Rücken zu Fuß hergewandert kamen, in der Hoffnung, bei der 8. Route-Armee ein Paradies zu finden.» Auch wenn Bosshard vor allem an den jungen Kämpferinnen und Kämpfern interessiert ist, betont er stets die Bedeutung der Politik der KPCh für die einfache Landbevölkerung. Die Kommunisten seien diejenigen, die durch ihr politisches Programm die Bauern von hohen Steuern, Landlosigkeit und Hungersnöten befreien könnten. Sie würden deswegen die volle Unterstützung der einfachen chinesischen Bevölkerung geniessen. Obwohl sich in solchen Passagen eine gewisse Überhöhung der Motive der kommunistischen Bewegung offenbart, bewahrt Bosshard doch stets eine gewisse Distanz zum Geschehen. Diese Haltung zeigt sich besonders in seinem Artikel zum Treffen mit Mao Zedong (siehe Bild).

Im Kurzfilm Yenan begegnen wir Mao zum ersten Mal nach ungefähr 18 Minuten. Zunächst blickt er verstohlen in die Kamera, um in der nächsten Sequenz aus der Tür seines Hauses zu schreiten, auf die Kamera zuzugehen und sich in selbstbewusster Pose zu präsentieren: Hier geniesst der Führer des kommunistischen Chinas die Aufmerksamkeit! Doch diese Aufmerksamkeit und Bedeutung will ihm Walter Bosshard nicht ganz zugestehen, so schreibt er über Mao: «Seine [Maos] Anhänger vergleichen ihn gern mit Stalin und seit dem <langen Marsch> nennen sie ihn den <roten Napoleon>. Beide Vergleiche sind unzutreffend, denn Mao Tse-tung hat weder das Format des roten Diktators, noch die Fähigkeiten des korsischen Generals.» Er beobachtet bei Mao, dass er mit einer «langsamen Bewegung seiner schöngeformten Hand» sich die Haare aus dem Gesicht streicht und ständig raucht. Bosshard schreibt dazu: «Genuß bereiteten ihm die Zigaretten billigster Sorte, die er ununterbrochen rauchte und die nach einer Mischung von Pferdemist und Sauerkraut schmeckten.» Insgesamt verbinden sich in Walter Bosshards Bericht eigene Eindrücke und Erlebnisse mit einer fundierten Diskussion des Krieges und der politischen Situation in China. Persönliche Beobachtungen und Anekdoten verbinden sich dabei mit politischen und historischen Analysen.

Als Walter Bosshard Mao im Mai 1938 besuchte, bestand seit einigen Monaten die so genannte «Zweite Einheitsfront» zwischen KPCh und Guomindang. Es handelte sich dabei um ein Abkommen, wonach die beiden politischen Rivalen ihre kriegerischen Auseinandersetzungen einstellten, um gemeinsam gegen die Invasion der japanischen Armee zu kämpfen. Auch wenn das Bündnis stets fragil war und Konflikte nicht ausblieben, stellt Bosshard den Willen der Kommunisten zur Kooperation in den Vordergrund. Er porträtiert Mao hier nicht als radikalen Revolutionär, sondern als Parteiführer, dem zuallererst das Wohl und die Einheit Chinas am Herzen liegen. Damit reihten sich Walter Bosshards Darstellungen Mao Zedongs in eine Tradition von westlichen Journalistinnen und Journalisten ein, die über die kommunistischen Gebiete berichteten. Der amerikanische Journalist Edgar Snow wurde durch seinen Besuch in Yan‘an im Jahr 1936 weltberühmt. Er führte während eines viermonatigen Aufenthalts viele Gespräche und setzte Mao Zedong in seinem einflussreichen Werk Red Star Over China ein Denkmal, welches das Mao-Bild im Westen für lange Zeit prägen sollte. Auch bei Edgar Snow erscheint Mao als umsichtiger Reformer, für den das Wohl der Bauern, die Zukunft Chinas und die Einheit des Reiches Priorität hatten. In vielen westlichen Darstellungen zeigt sich somit eine grosse Sympathie für den Kampf der Chinesinnen und Chinesen um eine bessere Zukunft.

Ein Ort der Hoffnung und der Grausamkeit

Die Höhlenstadt Yan’an bildet bis heute einen zum Mythos verklärten Ort, den jährlich Tausende von Touristen und Touristinnen besuchen. Er steht wie kein anderer für die Kameradschaft, Einsatzbereitschaft und das einfache Leben der kommunistischen Revolutionäre in China. Doch bereits hier zeichneten sich politische Entwicklungen unter der Führung Maos ab, die in späteren Jahrzehnten Millionen von Opfern forderten und die Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert prägten.

Zum einen setzte Mao schon in Yan’an seinen Machtanspruch und die Etablierung seiner Odeen mit brutalen Säuberungskampagnen durch. Zum anderen entwickelte sich hier eine revolutionäre Praxis, die auf die Mobilisierung der Bevölkerung zur permanenten Revolution setzte und dabei auf gewalttätige Aktionen zurückgriff. Walter Bosshards Reportagen und Kurzfilme aus dem revolutionären Untergrund fangen einen Moment dieser komplexen Geschichte ein. Einen Moment, in dem sich im Untergrund in Yan’an eine Bewegung formierte, die sowohl westliche Beobachter als auch chinesische Bauern, Jugendliche und intellektuelle als Licht der Hoffnung sahen.


Bild: AfZ:NL Walter Bosshard/243

Zu sehen ist der Schweizer Journalist und Fotograf Walter Bosshard (links) zusammen mit dem amerikanischen Journalisten A.T. Steele (rechts) und Mao Zedong in Yan’an im Mai 1938.

Anmerkung der Redaktion: Wir danken dem Archiv für Zeitgeschichte für die Bereitstellung des Bildmaterials und entschuldigen uns für die falsche Quellenangabe in der Printversion des etü.

Literatur

• Golany, Gideon: Chinese earth-sheltered dwellings. Indigenous lessons for modern urban design, Honolulu 1992.

• Karl, Rebecca: Mao Zedong and China in the twentieth-century world, Durham und London 2010.

• Pfrunder, Peter/Münzer, Verena/Hürlimann, Annemarie: Fernsicht. Walter Bosshard – ein Pionier des modernen Photojournalismus, Bern 1997.