Wunderbare Besitztümer – Die Erfindung des Fremden

Der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt hat untersucht, welche Repräsentationstechniken europäische Entdecker anwandten, um den Daheimgebliebenen die Neue Welt zu schildern. Im Sinne des New Historicism berücksichtigte er Reiseliteratur, etwa von Mandeville, Kolumbus oder Bernal Díaz.

Mit einer persönlichen Reiseanekdote steigt der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt in sein Werk über die Entdeckung der Neuen Welt ein: Im August 1986 sei er während eines nächtlichen Spaziergangs durch balinesische Reisfelder per Zufall auf ein kleines Dorf gestossen. Dessen
Bewohner hatten sich allesamt in einem Pavillon versammelt, wo sie im Schneidersitz einen Fernseher umringten. Bei den Videoaufnahmen, welche die Bewohner mit Hochspannung verfolgten, handelte es sich um eine Tempelzeremonie. «Durch aufgeregte Zwischenrufe und wiederholte Lachanfälle stutzig geworden, erkannte ich in der leutseligen Menge der Fernsehzuschauer
einige der Tänzer wieder, die in ekstatischer Trance über den Bildschirm tobten», erinnert sich Greenblatt. Diese Aneignung neuster westlicher und japanischer Repräsentationstechnologien – Fernseher und Videorekorder – durch die
Balinesen und deren kulturspezifische Anwendung verblüffte Greenblatt. Er fragte sich: Wer assimiliert hier eigentlich wen?

Diese Anekdote gibt Greenblatt dem Leser fünf Jahre später mit auf den Weg durch seine kompakte, etwas mehr als 200-seitige und äusserst wortgewandte Monographie. «Repräsentationspraktiken haben eine ideologische Bedeutung – und es wird Aufgabe dieses Buches sein, einige Aspekte dieser Bedeutung zu untersuchen», schreibt er.

New Historicism in Anwendung

Greenblatt geht im Werk der Frage nach, welche Repräsentationspraktiken die «Europäer nach Amerika mitnahmen, um ihren Landsleuten daheim zu beschreiben, was sie dort sahen und taten». Diese Erkenntnisabsicht ist auch bedingt durch die Quellenlage. Bei Forschung zur Entdeckung der Neuen Welt
ist der Wissenschaftler nämlich vorwiegend auf europäische – und schriftliche – Quellen angewiesen, denn: «Die Reaktionen der Einheimischen auf die verheerende Ankunft der Europäer sind nur in äusserst fragmentarischer und problematischer
Form überliefert».

Wie bereits auf den ersten Seiten lebt Wunderbare Besitztümer auch im weiteren Verlauf von Anekdoten. Dies hängt laut Greenblatt damit zusammen, dass wir es im Reisediskurs des ausgehenden Mittelalters und der Renaissance mit Reisenden
zu tun hätten, «die glauben, sie wüssten, wohin sie unterwegs sind, aber statt dessen an Orten landen, deren Existenz sie noch nicht einmal geahnt haben». Aus diesem Grund sucht man vergebens nach narrativen und teleologischen Meisterwerken.
Dennoch betrachtet Greenblatt die verwendeten Anekdoten als repräsentativ, weil sie eben doch eine gewisse Strategie andeuten.

Dass Greenblatt bei der Untersuchung seiner Fragestellung auf Literatur zurückgreift, erstaunt in Anbetracht seiner akademischen Herkunft nicht. Dass der Shakespeare-Experte aber ausschliesslich literarische Quellen verwendet und dabei
einen historischen Anspruch verfolgt, ist aussergewöhnlich. Greenblatt gilt als Begründer des New Historicism. Diese Literaturtheorie versucht, Geschichte anhand von literarischen Werken zu verstehen, indem sie sowohl den Einfluss einer
bestimmten Zeit auf den Text sowie die Reflexion dieser Zeit durch den Text in den Fokus rückt. Doch gelten die behandelten Quellen überhaupt als Literatur? «Nur zu schmerzlich bin ich mir des Ungenügens bewusst, mit dem ich als Literaturwissenschaftler an einen Text wie Kolumbus‘ Brief an Santangel herangehen muss», schreibt Greenblatt. Immerhin entsprangen solche Texte kaum einem «literarischen Ehrgeiz» und verfolgten keine «theatralische Absicht», wie er eingesteht. Und dennoch: Die Begegnung der Europäer mit der Neuen Welt habe bestimmte «Operationen der Einbildungskraft» zu Tage gefördert, was für literarische Texte kennzeichnend sei. Im Bewusstsein, dass die angewandte Methode nur dann funktioniert, wenn es sich bei den Quellen tatsächlich um Literatur handelt, erscheint diese Argumentation etwas dünn.

Dem Wunder auf der Spur

Das Werk besteht aus einer Einleitung und vier weiteren Kapiteln. Im auf die Einleitung folgenden zweiten Kapitel Vom Felsendom zum Rand der Welt widmet sich der Autor dem Bericht Mandevilles Reisen. Eine Konstante in Greenblatts Buch ist die Analyse des sprachlichen Gebrauchs des Wunders bzw. der Verwunderung. Ziemlich genau in der Mitte seines Berichtes entscheidet sich der selbsternannte Kreuzritter Mandeville aus unerklärlichen Gründen, den Traum der Wiederinbesitznahme des Felsendoms in Jerusalem aufzugeben und stattdessen die Peripherie der Welt zu erkunden. Dort gebe es «verschiedene Leute und verschiedene Tierarten und viele andere wunderbare Dinge». Was folgt, ist laut Greenblatt ein «toleranter Spaziergang» um die Welt. Er streicht heraus, dass Mandeville, im Vergleich zu später auftretenden Figuren, im Laufe seiner Reise
niemals Besitz anstrebe, die Rede vom Wunderbaren also in den Kontext des Verzichts auf Besitz gehöre.

Einen ganz anderen Zweck erfüllt das Wunder im Sprachgebrauch des Christoph Kolumbus, wie im dritten Kapitel, das denselben Titel trägt wie das Gesamtwerk, aufgezeigt wird. Bei Kolumbus erfolgt die Besitzergreifung seiner ersten Entdeckung, einer Insel in den Bahamas, durch Sprechakte und ein juristisches Ritual. Durch Proklamation und mit entfaltetem Königsbanner habe er für Spanien Besitz ergriffen, und keiner habe ihm widersprochen. Dass die Einheimischen seine
Worte gar nicht verstehen, bleibt natürlich unerwähnt. Als Ergänzung zu dieser Besitzergreifung verwendet Kolumbus das Wunderbare als strategisches Mittel. Denn kaum hat er das juristische Ritual beendet, verkündet er: «Der ersten [Insel], die ich fand, gab ich den Namen ‚San Salvador‘, zum Gedenken an die Allerhöchste Majestät, die wunderbarerweise all dies gestiftet hat». Die göttliche Schenkung legitimiert die ominöse Besitzergreifung.

Das vierte Kapitel, Die Entführung der Sprache, befasst sich mit der Frage, wie aus der stummen Verwunderung der Europäer und Einheimischen ein sprachlicher Austausch entsteht. Oder in den Worten Greenblatts: «Wie kann ein Repräsentationssystem mit einem anderen Repräsentationssystem in Kontakt
kommen?» Dabei untersucht er drei Ebenen der Interaktion: Stumme Zeichen, materiellen Austausch und schlussendlich die Sprache.

Im Schlusskapitel Die Vermittler geht der Autor auf die Funktion von Dolmetschern ein, etwa Doña Marina. Ausserdem kehrt er zur Thematik der Verwunderung zurück als ein «Zeichen der überraschten Anerkennung des Anderen in sich selbst und seiner selbst im Anderen» – ein Eingeständnis, zu dem sich etwa Bernal Díaz nicht durchzuringen vermag.

Literatur als Elite-Diskurs

Stephen Greenblatt überzeugt mit Wunderbare Besitztümer durch seine immense Kenntnis verschiedensten Schriftguts – von der Bibel über Herodot bis zu Descartes, nicht zu vergessen die unzähligen verwendeten Reiseberichte –, die er geschickt
für die Beantwortung seiner Fragestellung einzusetzen weiss. Leider kommen Quellenkritik und wichtiger historischer Kontext zugunsten von philologischen Interpretationen teilweise zu kurz oder müssen sich mit einem Platz in den Fussnoten begnügen. So wäre es im Sinne der Fragestellung etwa wichtig gewesen aufzuzeigen, welches Publikum die Entdecker mit ihren unterschiedlichen Repräsentationspraktiken zu erreichen versuchten und zu welchem Zweck.
Für den Literaturwissenschaftler bietet sich die Thematik der Entdeckung der Neuen Welt an, weil die Mängel seiner Methode aufgrund der Quellenlage nicht weiter auffallen: Greenblatt untersucht im Sinne des New Historicism antike,
mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur und somit vorwiegend den schriftlichen Elite-Diskurs; die Reiseberichte stammen ohnehin allesamt aus der Oberschicht, Spuren von Europäern der unteren Klassen sind hingegen höchst selten. In anderen Worten: Die Entdeckungen produzierten genau die Art von Quellen, welche sich ein Literaturwissenschaftler wünscht. Und dennoch: Für einen Literaturinterpreten wie Greenblatt ist es eine Notwendigkeit, die verwendeten Quellen als Literatur zu identifizieren. Dabei überzeugt er, wie oben bereits ausgeführt, nicht in jedem Fall.