Sozialismus abseits der Sowjetunion

Julius Nyerere. Kopf und Seele des Ujamaa-Sozialismus in Tansania. (Quelle: zvg von Frank Schubert)

Ein Land zum Stichwort Revolution? Wohl Frankreich. Ein weiteres zum Stichwort Sozialismus? Sicher die Sowjetunion. An Tansania denkt man wohl eher nicht. Eine Vortragsreihe am osteuropäischen Institut möchte dies ändern.

Der Vortrag «Afrikanischer Sozialismus – Ujamaa in Tansania» von Dr. Frank Schubert behandelte letzten Mittwoch sowohl Revolutionen als auch Sozialismus, umschiffte dabei aber Frankreich und die Sowjetunion (fast) komplett.

Sozialismus in Afrika? Das Thema dürfte wohl einigen Geschichtsstudierenden unbekannt sein. Vorerst – denn nach dem Vortrag werden sie wissen, wie der Sozialismus auf den afrikanischen Kontinent kam und wie er besonders in Tansania umgesetzt wurde. Anfangs des 20. Jahrhunderts war Sozialismus in Afrika noch nicht verbreitet. Erst nachdem sich durch die Industrialisierung, die Entwicklung des Bergbausektors und den Abbau von Gold und Diamanten eine Arbeiterschaft gebildet hatte, war die Grundlage dafür gelegt. Noch vor 1920 wurden die ersten Arbeiterorganisationen gegründet. Wohlgemerkt, die Russische Revolution wurde in Afrika kaum rezipiert und kann daher nur begrenzt als Vorlage für die Entwicklung des dortigen Sozialismus gesehen werden. Das ist programmatisch für die gesamte Ausgestaltung des Sozialismus in Afrika. Afrika wollte stets eine eigene, afrikanische Variante finden und nicht die der Sowjetunion kopieren. Dieser Afrikafokus bedeutete jedoch nicht, dass stets alle Afrikaner in die Bewegung eingeschlossen waren. Als die ersten Kommunistischen Parteien gegründet wurden, waren sie dezidiert weiss und durchaus rassistisch. In Südafrika lautete der Slogan: «Workers of the world unite and fight for a white South Africa.» Erst einige Jahre später nahmen kommunistische Parteien in Afrika auch Nichtweisse auf. Politische Vereinigungen nichtweisser Afrikaner unterlagen jedoch stets strenger Kontrollen, was deren Gründung und Tätigkeit erschwerte.

Allianzen mit Europäischen Kommunisten

Europa war trotz Afrikas starkem Wunsch, eine eigene Variante des Sozialismus zu finden, ein Einflussfaktor. Etwa in der Art, wie Afrikaner mit dem Sozialismus in Kontakt kamen. Das passierte einerseits über Missionen und deren Schulen in Afrika. Wohlgemerkt, die Missionen förderten den Sozialismus nicht bewusst. Dennoch wurden oft gebildete Afrikaner zu Oppositionellen, nachdem sie Missionsschulen durchlaufen hatten. Andererseits entstand der Kontakt zum Sozialismus oft über Universitäten in Europa. Auch politische Organisationen in den Metropolen der Kolonialmächte hatten einen Einfluss. Zugang zu Europa hatten vor allem Bildungseliten, denen das Reisen überhaupt möglich war. Beim Kontakt mit Sozialismus in Europa gab es durchaus regionale Unterschiede: In Frankreich hatten manche Afrikaner aus französischen Kolonien das Wahlrecht. Es schlossen sich besonders in den 1940ern in der Französischen Nationalversammlung oft französische Kommunisten mit afrikanischen Nationalisten zusammen, da sich bei den Linken noch zuerst Kritiker des Kolonialismus finden liessen. In England entstand der Kontakt mit Sozialismus eher an Universitäten, da dort die Afrikaner keinen Zugang zum Parlament hatten wie in Frankreich.

Doch weg vom Generellen und hin zum Fokus des Vortrags, der Ausgestaltung des Sozialismus in Tansania. In diesem Land – damals noch Tanganjika – war Julius Nyerere (1922-1999) die wichtigste Person für die Umsetzung des Sozialismus. Die katholische Kirche hat den afrikanischen Kommunisten nach seinem Tod seliggesprochen und sie debattiert nun gar seine Heiligsprechung. Wie er diese besondere und überraschende Wertschätzung errang, wurde im Vortrag klar. Nyerere war Teil der Bildungselite und ausgebildeter Lehrer. Er studierte in Edinburgh. Nach dem Studium kehrte er zurück nach Tanganjika und war Nationalist, der sich für die Unabhängigkeit des Landes einsetzte. 1954 gründete er die Tanganyika African National Union (TANU). Damals hatte die Sowjetunion einen geringen Einfluss auf das Land – was in anderen afrikanischen Staaten durchaus anders war – und das war Nyerere Recht. Er wollte sich aus dem Kalten Krieg und europäischen Konflikten heraushalten. Auch Chinas Einfluss war begrenzt, ganz im Sinne von Nyerere. Er setzte stattdessen den Ujamaa-Sozialismus durch. «Ujamaa», ein Wort in Suahili, bedeutet «Familienbeziehungen», «Beziehungsnetzwerk» und inzwischen auch ganz einfach «Sozialismus». In der Arusha-Deklaration von 1967 stellte er die Ziele dieses Gesellschaftsmodells vor. Es steht für die afrikanische Tradition der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe. Es grenzt sich ab vom Marxismus und Leninismus. Es steht für Afrikas eigenen Sozialismus. Die Abgrenzung beinhaltete die Idee, dass beispielsweise die Gewalt des Leninismus stark verurteilt wurde und deswegen kein Teil von Afrikas Sozialismus werden dürfe.

Nyerere machte seinen Weg zielstrebig. Er wurde 1960 Ministerpräsident des Landes und erreichte 1961 endlich sein Ziel: Tanganjika wurde unabhängig von Grossbritannien. 1962 wurde er Staatspräsident. In dieser Funktion konnte er 1964 Tansania gründen, indem Sansibar und Tanganjika zusammengeschlossen wurden. Die unbeirrbare Verfolgung des Ziels Unabhängigkeit zeigt auch, dass der Nationalismus in der TANU lange höher gewichtet wurde als der Sozialismus.

Das Scheitern der Ujamaa

Nyerere startete mit guten Voraussetzungen in die Unabhängigkeit, wie Dr. Schubert ausführte. In den 1960ern herrschte Aufbruchsstimmung und die wirtschaftliche Lage war gut. Es herrschte Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und gleichzeitig Misstrauen gegenüber ausländischen Investitionen und Entwicklungshilfe. Die TANU setzte sich positive Werte zum Ziel wie etwa die Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit oder die Gleichheit aller Menschen, Recht auf Leben, Besitz, Ressourcen sowie einen fairen Lohn. Die praktische Umsetzung des Kommunismus war aber nicht in allen Aspekten populär. Etwa wurde das Land kollektiviert. Zur effizienteren Bewirtschaftung und den Aufbau einer Infrastruktur sollten die verstreut lebenden Bauern neu in Dörfern leben. Weil sich viele weigerten, wurden sie in den 1970ern oft mit Gewalt umgesiedelt – die anfängliche Überzeugung, Afrikas Sozialismus komme ohne Gewalt aus, wurde damit gebrochen. Der tägliche Widerstand von Kleinbauern setzte dem Ujamaa-Sozialismus zu und verhinderte ihn schliesslich ganz. Wegen Verschlechterung der Handelsbedingungen, Korruption in der Verwaltung und Verschuldung des Landes in den 1970ern konnte der eigene Weg denn auch nicht mehr durchgesetzt werden. Tansania wurde in die Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfond und der Weltbank getrieben. In den 1980ern musste Nyerere als Staatspräsident zurücktreten. Sein grosser Beitrag an die Entwicklung des afrikanischen Sozialismus ist dennoch nicht vergessen.

Globalgeschichte am Osteuropäischen Institut

Dr. Schuberts Vortrag beleuchtete einen bisher wenig bekannten Zweig des Sozialismus. Gerade 2017, zum Jahrestag der Russischen Revolution, wird der Kommunismus wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Doch Sozialismus ist nicht gleich Sowjetunion wie man anhand der öffentlichen Debatten glauben könnte, weil an jeder Ecke Russland-bezogene Anlässe stattfinden. Sozialismus fand eben, wie der Vortrag zeigte, auch in Afrika statt. Die Vortragsreihe «Revolution Global» beleuchtet daher Aspekte, die sonst eher wenig debattiert werden. Bei der Vortragsreihe handelt es sich auch um ein starkes Bekenntnis der Abteilung für Osteuropäische Geschichte zum Konzept der Globalgeschichte. Das heisst, sie widerspiegelt die Überzeugung, dass an der UZH nicht nur am Lehrstuhl für Globalgeschichte über den europäischen Tellerrand hinausgeschaut wird und damit der Pflicht genüge getan ist. Ein Besuch der weiteren Vorträge der Reihe kann daher jeder geschichtsinteressierten Person mit Neugier für aussereuropäische Entwicklungen nahegelegt werden.


Zur Person

Dr. Frank Schubert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuzeit von Gesine Krüger. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte Ostafrikas, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Kolonialmilitär und interne Kriege, Staatsbildung und politische Ethnizität. Neben seiner akademischen Tätigkeit war er Gutachter für die Deutsche Gesellschaft technischer Zusammenarbeit in Uganda im Rahmen der Demobilisierung der ugandischen Armee in den 1990er-Jahren.

Vortragsreihe «Revolution Global» – Mittwoch 18.15 Uhr, KOL-G-221, UZH

  1. April: Chinas kommunistische Revolution und ihre globalhistorischen Bezüge
  2. April: Die permanente Revolution. Kuba im Zentrum revolutionärer Bewegungen in Afrika und Lateinamerika
  3. Mai: Arabischer Marxismus und islamische Geschichte – Versuch einer De-Provinzialisierung
  4. Mai: Afghanistans blutige Revolution